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Der Himmel über Kasakstan

Der Himmel über Kasakstan

Titel: Der Himmel über Kasakstan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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eine dicke Suppe kochte. Die Erwachsenen bekamen Borschtsch, die man in großen Thermoskesseln heranschaffte.
    Am zweiten Tag, als die Bauern schon ungeduldig wurden und den leitenden Offizier zu sprechen verlangten, rollten statt der Güterwagen normale, aber alte Personenwagen über die Gleise. Sie schoben sich dem Güterzug gegenüber zwischen die wartenden und staunenden Menschen.
    »Nanu?« rief einer der Bauern, ein rothaariger Feuerkopf, der schon dreimal in diesen zwei Tagen mit der Miliz zusammengestoßen war, weil er von den Gleisen weg zu einem Bahnwärterhäuschen wollte, in dessen Fenster er ein schwarzhaariges Mädchen erblickt hatte. »Soll das für uns sein, Brüderchen?! Personenwagen? Sauber gefegt?! Beginnt man endlich, uns als Menschen zu betrachten?!«
    »Diese Wagen sind ein Beweis unserer Freiheit«, philosophierte ein alter Bauer, der schon dreimal hin- und hergezogen war. »Nur der freie Mensch hat ein Recht auf Höflichkeit!«
    Vier Offiziere fuhren in einem offenen Wagen heran. Sie hatten dicke Aktentaschen voller Papiere bei sich. Die Postenkette rückte näher und schnürte den Raum ein … nur die beiden Züge und die dazwischenliegenden Schottersteine blieben übrig.
    »Freiheit«, sagte der Rothaarige laut. »Da seht ihr's! Alles ist Mist!«
    »Herhören!« brüllte einer der Offiziere. Das Gemurmel der Bauern erstarb. Verblüfft, ratlos sahen sie sich an. Der russische Offizier sprach deutsch zu ihnen! In Moskau, auf dem Bahnhof, sprach einer deutsch zu ihnen. In Uniform. Das war so ungeheuerlich, daß sie es nicht begreifen konnten.
    »Mit dem heutigen Tage seid ihr Deutsche!« schrie der Offizier wieder. Sein Deutsch war hart, aber gut verständlich und geläufig. Er sprach es besser als mancher der jungen Bauern, die in Rußland aufwuchsen und die deutsche Sprache nur in einzelnen Brocken von den Eltern kannten. »Moskau hat euch eure Heimat wiedergegeben. Der Großzügigkeit und Menschenfreundlichkeit des Genossen Chruschtschow, des Garanten einer freien Welt, habt ihr es zu verdanken, daß ihr nach Deutschland kommt!« Er hob seine dicke, pralle Aktentasche empor und zeigte sie allen. »In dieser Tasche sind eure ganzen Papiere. Sie werden den deutschen Behörden übergeben. Damit seid ihr keine russischen Genossen mehr, sondern Knechte der Kapitalisten.«
    »Das klingt schon anders«, sagte einer aus der Menge laut.
    »Wer in Mütterchen Rußland bleiben will, kann es jetzt noch sagen! Noch ist es Zeit. In einer Stunde fährt der Zug ab … dann gibt es kein Zurück mehr! Wer hierbleiben will, kann vortreten.«
    Boris sah Erna-Svetlana an. Sie stand neben ihm auf dem Schotter, Natascha auf dem Arm, dick vermummt in einem wollenen Schal. Neben ihnen starrten Mischa und Mascha auf den Offizier. Was er sprach, verstanden sie nicht … sie konnten nur Russisch.
    Svetlana verstand den Blick Boris'. Sie lächelte schwach und schüttelte leicht den Kopf. Boris senkte den Kopf. Durch die dichtgedrängten Reihen der Bauern ging Unruhe, ein Flüstern und Raunen. Aber niemand trat vor. Der russische Offizier grinste.
    »Die guten Deutschen!« sagte er voller Hohn. »Schon das Wort deutsch genügt, und sie werden zu Helden!«
    »Leck mich am Arsch!« schrie der Rothaarige zurück. Einige Bauern lachten, die Frauen zogen ängstlich die Köpfe ein. Was kommt jetzt? durchzitterte es sie. Jetzt werden wir alle verprügelt. Das ist das Geringste, was geschehen wird.
    Es geschah nichts. Der Offizier klemmte seine Aktenmappe unter den Arm und ging zurück zu seinem Wagen. Eine zusammengeballte Masse Unverständnis, so starrten ihm die Bauern nach.
    »Wir sind doch freie Menschen«, sagte zögernd der Rothaarige. »Er läßt es sich gefallen –«
    Zwei Stunden später war das Umladen von den Viehwaggons in die Personenwagen abgeschlossen. Zwar saß in jedem Wagen noch ein bewaffneter Milizsoldat, aber sonst sah der Zug aus wie alle Züge auf der Welt.
    Die vier Offiziere saßen wieder in ihrem offenen Wagen. Für sie waren diese 460 Menschen abgeschrieben. Sie verstanden zwar die Politik Chruschtschows nicht mehr … aber das war unwichtig. In Rußland hatte noch nie jemand verstanden, was aus dem Kreml kam.
    Langsam rollte der Zug aus dem Güterbahnhof auf die freie Strecke, Richtung Westen. In einigen Wagen begann man zu singen. Zögernd erst, dann lauter, freier. Schwermütige Lieder aus der Steppe, vom Don, von der Wolga, von den flachen Ufern des Jenissei und des Irtisch. Gesänge aus

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