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Der Himmel über Kasakstan

Der Himmel über Kasakstan

Titel: Der Himmel über Kasakstan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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es in ihm. Jetzt ist er klein wie ein Wurm. Armselig wie eine nasse Maus. Jetzt ist er zerschmettert! Deutsches Pack!
    Und er dachte nicht mehr daran, daß er bei der Hochzeit Boris' und Svetlanas auf der Datscha getanzt und Boris sein ›liebstes Brüderchen‹ genannt hatte.
    *
    Am 15. Oktober war alles bereit.
    Boris hatte einen Leiterwagen beladen und zwei seiner stärksten Pferde vorgespannt. Sergeij Alexandrowitsch Njomez hatte ihm kameradschaftlich geholfen, das Gepäck nachzuwiegen. Genau 60 Pfund waren es … ein paar Betten, Kleider, Anzüge, zwei Pelze und einige Stücke der Erinnerung … ein Messer, das Boborykin geschnitzt hatte, einige Bilder von der Datscha, von Judomskoje und der Steppe von Kasakstan.
    Schon um sieben Uhr morgens erschien Konjew auf der Datscha und umstrich den Leiterwagen. Njomez sah ihn zuerst und eilte aus dem Haus.
    »Sie wollen mich besuchen, Ilja Sergejewitsch?«
    »Auch, auch. Zuerst aber will ich kontrollieren, ob das Gepäck –«
    »Ich habe es mitgewogen. Es ist kein Gramm zuviel.«
    »Ich muß es nachwiegen.«
    »Ich garantiere dafür!«
    »Moskau wird mich zerreißen, wenn es zuviel ist.«
    »Sagen Sie Moskau, daß ich kein Idiot bin und weiß, was 60 Pfund sind!«
    »Und ich bin kein Idiot, das nach Moskau zu melden.«
    Konjew wog nicht nach. Er stand etwas abseits, als Boris und Erna-Svetlana, die Kinder an der Hand oder auf dem Arm, aus dem Gesindehaus traten. Sie beachteten Konjew nicht, stiegen auf den Wagen, Svetlana hüllte die Kinder in Decken und setzte sich selbst neben die zusammengeschnürten Betten.
    »Wir können fahren, Bor«, sagte sie, als machten sie einen Sonntagsausflug. Nur ihre Augen, die noch einmal zur Datscha hinübersahen, waren dunkel und schienen voll Tränen zu hängen.
    »In Alma-Ata müßt ihr morgen sein«, sagte Konjew laut. »Und die Pferde werden euch dort abgenommen! Ihr fahrt mit einem Güterzug weiter in eure Heimat!« Er sagte das Wort Heimat breit und betont. Boris nahm die Peitsche.
    »Johoij!« schrie er zu den Pferden. »Lauft, Freundchen – lauft schnell!« Er schwang die Peitsche, und es war sicherlich nur Zufall, daß die lange, dünne Lederschnur kurz vor den Stiefelspitzen Konjews den Staub aufschlug und zischend weiterjagte. Konjew prallte zurück, aber als er das Gesicht Njomez' sah, schrie er nicht das, was er auf der Zunge liegen hatte.
    »Kapitalisten-Knechte!« war alles, was er knirschte.
    Langsam fuhren Boris, Svetlana und die Kinder aus der Datscha hinaus. Als sie das Einfahrtstor passiert hatten, ließ Boris die Peitsche über die Rücken der Pferde knallen.
    Schneller, schneller, meine Lieben … je schneller wir fahren, um so weniger brennen die Tränen in den Augen. Lauft doch … o Freunde, lauft doch … ich will mich nicht umsehen, ich will nicht Abschied nehmen … ich will vergessen, während der Wind mir ins Gesicht peitscht und eure Hufe den Staub der Straße aufwirbeln …
    Erna-Svetlana hatte sich im Sitzen zurückgedreht.
    Sie sah das lange, niedrige Dach der Datscha zwischen den Hofbäumen liegen, sie sah, wie Konjew und Njomez im Tor erschienen und ihnen nachschauten, sie sah die Herden auf den Weiden, die Apfelbaum-Plantagen, die Sonnenblumenfelder, die Rosenrabatten, die sie immer pflegte, die an den Rand der Steppe hingeduckten Blockhäuser von Judomskoje, den Wald von Undutowa, hinter dem die Sümpfe am Balchasch-See begannen, in dem der wilde Boborykin wohnte und Natascha Trimofa sie verbarg.
    Sie sah so lange zurück, bis alles hinter Bäumen und Feldern unterging. Sie hatte das Gefühl, weinen zu müssen, aber sie grub die Zähne in die Unterlippe und zwang sich, zu denken: Es wird ja alles besser. Wir löschen jetzt die grauenhafte Vergangenheit aus und ziehen in eine wirkliche Zukunft. Dieses Land hat uns nur Leid gebracht … ich will es vergessen.
    Und sie wußte, daß sie es nie konnte, weil sie nichts mehr so lieben könnte wie Kasakstan.
    »Wohin fahren wir, Mutti?« fragte Mischa. Er saß eingewickelt in eine Decke und kaute an einem Sonnenblumenkern.
    »In ein neues Land, Mischa.«
    »Warum?«
    »Dort ist es schöner, Mischa.«
    »Gibt es dort auch Pferde?«
    »Aber sicher. Viele Pferde.«
    »Und die Steppe mit den Wildhühnern?«
    »Auch, Mischa. Es gibt dort alles, was wir brauchen. Und um uns herum werden nur liebe Menschen sein. Es ist das Land, wo dein Ur-Urgroßvater geboren wurde.«
    »Wer war das, Mutti?«
    Boris drehte sich herum. »Sei still, Mischa«, sagte er hart. »Du

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