Der Himmel über Kasakstan
wirklichen Grund hast, von hier wegzukommen.«
»Einen Grund?«
»Einen richtigen Grund.« Der Distriktsowjet sah in den Himmel. »Wenn zum Beispiel Borkin sich unanständig gegen dich benimmt. Dann könntest du ihn anzeigen! Dann kämest du auch weg.«
Erna-Svetlana schüttelte den Kopf. »Wie könnte ich den djadja anzeigen?«
»Wenn er sich an dir vergreift.«
»Das tut er nicht.«
»Er wird es tun.«
Der Kopf Svetlanas schnellte wieder herum. Sie sah in die kleinen, glänzenden, gierigen Mongolenaugen Tschetwergows. Ekel kam in ihr hoch, aber sie zwang sich, diesen Blicken standzuhalten und nicht wegzulaufen.
»Wenn Sie das wissen, Genosse, warum nehmen Sie mich dann nicht mit nach Alma-Ata?«
»Weil keine Anzeige vorliegt. Wir sind ein Rechtsstaat, mein Vögelchen. Wir beginnen die Maschine der Gerechtigkeit nur dann in Gang zu setzen, wenn vor uns auf dem Schreibtisch ein Brief liegt: ›Iwan Kasiewitsch Borkin ist ein Schwein. Er versuchte, mich zu schänden. Erna-Svetlana Bergner.‹ – Wenn du das schreibst, mein Röschen, ist Borkin innerhalb 6 Stunden nicht mehr dein djadja. Du aber kommst nach Alma-Ata.« Tschetwergow beugte sich zu ihr hinab. Sein Atem, nach Knoblauch und Tabak riechend, strich wie eine heiße Wolke über ihr Gesicht und trieb ihr die Galle bis in die Mundhöhle. »Ich werde dafür sorgen, daß du es gut hast. Ich verspreche dir, mich selbst einzusetzen.«
»Für eine Deutsche?«
Tschetwergow hob den Kopf. »Kröte«, dachte er, plötzlich ernüchtert.
»Überleg es dir«, sagte er hart. »Mich interessiert nicht, ob du in Alma-Ata eine Hure wirst, oder hier bei Borkin zuschanden kommst. Was kümmert es mich?«
Er wandte sich ab und ging zu seinem Wagen, der draußen vor dem Tor der Datscha auf der Straße nach Judomskoje stand. Unter dem Dach der Terrasse erschien die hohe Gestalt Borkins.
»Svetlana« rief er. »Wo bist du?! Svetlana!«
Mit einem breiten Lächeln drehte sich Tschetwergow herum. Er zeigte auf die Ecke des Hofes, in der Erna-Svetlana stand.
»Dein Täubchen kommt gleich, Genosse«, rief er gehässig über den Hof. »Zerbrich sie nicht mit deinen großen Händen.«
Borkins Kopf schnellte vor. »Fedja!« schrie er. »Laß die Hunde los! Fedja, du Mißgeburt! Die Hunde los!«
Lachend stieg Tschetwergow in seinen Wagen und fuhr ab. Als Fedja die Hunde losließ, war er schon so weit von der Datscha weg, daß sie ihn nicht mehr erreichten und mit hängenden Zungen und jaulendem Heulen im Staub der Straße stehen blieben und ihm aus ihren rotunterlaufenen Augen nachstarrten.
Frohen Mutes fuhr Tschetwergow nach Judomskoje zu Iljitsch Sergejewitsch Konjew. Er hatte Mißtrauen gesät, denn er wußte, daß Mißtrauen der größte Feind des Friedens ist.
*
Die ganze Nacht über dachte Borkin über Svetlana nach.
Er saß in seinem Zimmer mit der großen Fensterecke und grübelte, rauchte, trank Tee und verjagte Sussja, die als einzige von dem Gesinde aufgeblieben war, ihm den Tee kochte und hoffte, bei Borkin auch diese Nacht bleiben zu können.
Er hatte von Erna-Svetlana nicht erfahren können, was sie mit Tschetwergow gesprochen hatte. Daß sie mit ihm gesprochen hatte, wußte er von Kerek, der sie beobachtet hatte und den Borkin am Abend mit der Peitsche in der Hand zu sich rief.
»Du hast gehört, was sie gesagt hat«, schrie er ihn an. »Du willst es nicht verraten! Alle liebt ihr Svetlana, ihr geilen Wölfe! Heraus mit der Sprache! Sie hat mit dem Mongolenhund gesprochen!«
»Ja, Genosse Borkin. Aber ich konnte nicht verstehen –«
»Du willst nicht verstehen.«
»Sie sprachen leise. Ich sah nur, wie Genosse Kommissar sie streichelte.«
»Was hat er?!« brüllte Borkin. Der Gedanke, Tschetwergow habe Svetlana berührt, war für ihn wie das Abhacken eines Gliedes. Er spürte, wie es in seinen Händen nach Mord zuckte, wie seine Wut zum Irrsinn wurde und alles andere überdeckte … Vernunft, Verstand, Vorsicht und Sicherheit.
Er warf Kerek aus dem Zimmer und ließ sich Fedja holen. Ihn schickte er mit dem schnellsten Pferd nach Judomskoje. Nach einer knappen Stunde galoppierte Fedja staubüberzogen wieder in die Datscha ein. Die Nachricht, die er mitbrachte, ließ Borkin versteinern.
Stephan Tschetwergow blieb, entgegen aller Pläne, noch für zwei Tage in Judomskoje. Er gab keinen Grund an … er überraschte Konjew damit und stürzte das Dorf in eine bisher unbekannte Betriebsamkeit. Man plante sogar in der stolowaja für übermorgen einen
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