Der Himmel über Kasakstan
Niemand!«
Tschetwergow ballte die Fäuste. Seine geschlitzten Augen blitzten vor Wut. »Wenn Stalin stirbt, können Sie sich einen festen Strick nehmen.«
»Ich schicke Ihnen auch einen 'rüber«, sagte Borkin freundlich.
Der Distriktsowjet wandte sich ab. Er nahm seine Fellmütze und verließ grußlos das Zimmer. Als die Tür hinter ihm zuschlug, wurde das Gesicht Borkins ernst. Die Sicherheit, die er vor Tschetwergow getragen hatte, fiel ab wie ein nasser Mantel, den man von der Schulter gleiten läßt.
Wenn Tschetwergow so spricht und so sicher ist, muß sich in Moskau etwas Umwälzendes vorbereiten. War Stalin wirklich nur noch ein Wrack, das man als Aushängeschild benutzte? Waren die neuen, jungen gefährlicheren Männer schon am Werk?
Borkin trat vom Fenster weg und setzte sich an seinen Tisch. Er nahm sich vor, mit Moskau zu telefonieren, auf die Gefahr hin, daß man in Alma-Ata sein Gespräch mithörte und auf ein Tonband aufnahm. Wenn auch durch Alma-Ata noch die Ochsengespanne der Bauern knarrten und die Karawanen mit Kamelen durch die neuen Straßen zogen, wenn die Zeit in vielen Winkeln der Stadt seit Jahrhunderten stillgestanden hatte und weiter stillstand … im Parteihaus war es modern und mit den neuesten Mitteln eingerichtet, um Völker zu beherrschen und zu überwachen, die vom Kommunismus nichts weiter kannten als die rote Fahne, eine Hymne und einen Satz, der ihnen so phantastisch war wie die alten Sagen ihrer Ahnen: »Einmal wird die ganze Welt euch gehören!« Daran glaubten sie, das hielt sie zusammen.
Erstaunlich war nur, was die heimgekehrten Soldaten erzählten, die Berlin kannten oder Dresden, Leipzig, Halle und Magdeburg. Dagegen verblaßten die Erzählungen von Dschingis-Khan oder Tamerlan, von Kublai oder den großen Mongolenkaisern. In jedem Haus ein Diwan … überall Bäder … überall Radios … Es gab Geräte, die den Staub wegsaugten … Es gab Häuser, wo man nur an einem Rad drehte, und im Winter war die ganze Wohnung warm … Wunder über Wunder!
Borkin stopfte eine neue Pfeife mit dem hellen Tabak. Ich werde mit Svetlana nach Persien gehen, dachte er. In Ispahan wohnt ein Freund. Dort werden wir wohnen, er wird uns aufnehmen. Und dann wird eines Tages vielleicht die Stunde kommen, in der Svetlana in Borkin etwas anderes sieht als nur den Onkel … ein Tag, für den allein es sich lohnte, gelebt zu haben.
Auf dem Hof traf Tschetwergow auf Svetlana. Er blieb stehen, als das Mädchen ihm in den Weg trat, und hob die dünnen Brauen seiner Schlitzaugen. Plötzlich verstand er Iwan Kasiewitsch Borkin. Er musterte Svetlana … sein Blick glitt über ihr Haar, ihre hellblauen Augen, ihre feine Nase und die Brüste, die unter der seidenen Bluse sich hervordrückten. Ein Körper wie ein edles Pferd, dachte Tschetwergow. Es ist erstaunlich, daß es bei den verdammten Deutschen soviel Schönheit gibt.
»Was willst du?« fragte er. Er gab dabei seiner Stimme einen schmeichelnden Klang und strich mit der rechten Hand über seinen dünnen Mongolenbart.
»Ich wollte Sie sprechen, Genosse Tschetwergow.«
»Um was handelt es sich?«
»Ich möchte weg aus Judomskoje.«
Tschetwergow pfiff durch die Zähne. Sieh, sieh, mein Täubchen, dachte er. Der gute Borkin! Der liebe djadja! Habe ich es nicht geahnt?! Er faßte Erna-Svetlana am Arm und zog sie mit sich fort in eine Ecke des Hofes, dort, wo sonst die Mähmaschinen stehen. Hier konnte Borkin sie von seinem Fenster aus nicht sehen.
»Es wird nicht gehen«, sagte Tschetwergow. »Der Befehl aus Moskau.«
Erna-Svetlana nickte. Sie strich sich das nasse Haar aus der Stirn und sah hinüber zu der Datscha. Sie hatte Angst, Borkin könnte auf der Terrasse erscheinen und sie hier sehen.
»Ich möchte in die Stadt. Gibt es keinen Weg, Genosse? Ich kann alle Arbeiten. Ich könnte auch in einer Fabrik arbeiten.«
»In Fabriken arbeiten nur freie Menschen.«
Der Kopf Erna-Svetlanas fuhr herum. »Bin ich nicht frei?«
»Du bist ein halber Bürger der Sowjetunion. Halbheiten aber sind das, was die Partei am meisten haßt! Du bist Deutsche.«
»Ich bin in Rußland geboren.«
»Geboren! Das ist ein biologischer Akt. Wenn eine Kuh im Pferdestall kalbt, ist das Kalb noch lange kein Pferd!«
»Meine Mutter war keine Kuh!« sagte Svetlana laut.
Tschetwergow winkte ab. »Wir wollen darüber nicht streiten.« Er betrachtete die Hüften Svetlanas und schnalzte mit der Zunge. »Ich kann nur etwas für dich tun, mein Täubchen, wenn du einen
Weitere Kostenlose Bücher