Der Himmel über Kasakstan
Trimofa!«
Es rührte sich nichts. Boris trat an die Tür heran und stieß mit dem Fuß dagegen. Dumpf dröhnte der Schlag in dem hölzernen, aus dicken Balken gebauten Haus wider. Immer und immer wieder trat er gegen die Tür … verzweifelt, sich auflehnend gegen die Erkenntnis, daß er die Zehn Werst geritten war, um ein leeres Haus anzutreffen.
»Natascha!« brüllte er durch die Nacht. »Natascha! Öffnen Sie doch! öffnen Sie! Es geht um ein Leben!«
Hinter der Tür schimmerte plötzlich ein Licht auf. Es war so plötzlich, so unerwartet, daß es Boris den Atem verschlug. Er spürte sein Herz gegen den Kehlkopf schlagen. Es war ihm, als sei die Welt plötzlich luftleer geworden … er rang nach Atem.
Natascha Trimofa war zu Hause! Natascha …
»Wer ist da?« hörte er eine Stimme. »Scher dich weg, du besoffener Lump!«
»Ich bringe eine Kranke!« würgte Boris hervor. Er wußte nicht, ob seine Stimme überhaupt einen Klang hatte, ob man ihn verstand … er zitterte und drückte den schwach atmenden Körper Svetlanas an sich.
»Öffnen Sie doch, Natascha Trimofa …«
Die Tür ging einen Spalt breit auf … ein schmales, blasses, schönes Gesicht, umzittert vom Schein einer Petroleumlampe, spähte durch den Spalt in die Nacht. Eine kleine Hand schob die Lampe durch den Schlitz nach draußen und beleuchtete schnell Boris und Svetlana. Dann flog die Tür auf.
Boris trat an Natascha Trimofa vorbei in den großen Raum mit dem Lehmofen und legte Svetlana auf den Holztisch, über den – welch ein Luxus – eine buntbedruckte Decke gedeckt war. Hinter ihm fiel die Tür ins Schloß. Er hörte, wie die Ärztin den Riegel wieder vorschob.
Schnuppernd wie ein Reh trat Natascha Trimofa an den Tisch heran und beugte sich über Svetlana. Dann fuhr ihr kleiner, von schwarzen Haaren wie eine glatte, zweite Haut umgebener Kopf zu Boris herum. Ihre dunklen Augen sprühten.
»Sie ist doch besoffen!«
Das harte Wort paßte nicht zu den schmalen Lippen und dem schönen Mund, dem feinen Gesicht und dem zartgliedrigen Körper. Natascha hatte über ihr Nachthemd nur einen großen Schal geworfen.
Boris nickte. »Jetzt ja!« Er wischte sich den Schweiß, der ihm ausbrach, von der Stirn. Natascha sah ihn verächtlich an.
»Was wollt ihr also hier? Ich bin keine Trinkerheilanstalt.« Sie betrachtete Svetlana und bemerkte erst jetzt die zerfetzten Kleider des Mädchens. Ihre schmalen Lippen wölbten sich vor. »Ach so«, sagte sie gedehnt. »Besoffen und dann das?! Und nun soll ich eine nette Abtreibung machen, was?« Sie fuhr zu Boris herum, der zitternd neben dem Tisch stand. »Raus mit euch Lumpenpack!« schrie Natascha Trimofa. Ihr schmales Gesicht glühte. »Raus! Legt euch doch in den Schweinestall, wohin ihr gehört!«
»Ich habe sie so gefunden, Natascha Trimofa.«
»Du hast –« Die Ärztin sah wieder kurz auf Svetlana.
»Sie lag in der Steppe bei Judomskoje, in ihrem Zelt. Die ganzen Kleider hatte man ihr vom Leib gerissen. Betrunken hat man sie gemacht!« Die Stimme Boris' schwoll an … sie schrie und überschlug sich grell. »Nackt lag sie da … auf dem Körper die Griffe des Satans … und … und …« Er schlug die Hände vor die Augen und warf sich auf einen Stuhl neben dem Tisch. »Ich bringe ihn um, Natascha Trimofa. Ich bringe ihn um, wenn ich weiß, wer es war …«
Natascha Trimofa beugte sich über das etwas verzerrte Gesicht Svetlanas. Sie strich mit einer fast zärtlichen Bewegung das lange blonde Haar aus ihrer Stirn und betrachtete sie.
»Du liebst sie?« fragte sie plötzlich. Boris nickte.
»Ja.«
»Du kennst sie länger?«
»Wir kennen uns als Kinder. Wir sind Wolhyniendeutsche.«
»Ihr seid Deutsche –« Natascha Trimofa zog die zersetzten Kleider vom Körper Svetlanas. Ihre kleine Hand glitt über den nackten Leib, blieb unter der linken Brust liegen und nahm den schwachen Herzschlag auf. »Sieh einmal weg …«, sagte sie zu Boris.
»Warum?«
»Sieh weg, sag ich!« schrie ihn die Ärztin an. Boris gehorchte. Er sah zur Seite und schloß die Augen. Was macht sie mit Svetlana, dachte er. Er lauschte, aber er hörte nichts … kein Stöhnen, keinen Aufschrei … nichts.
»Du kannst wieder hersehen.«
Boris' Kopf flog herum. Svetlana lag noch immer auf dem Rücken. Natascha Trimofa stand an einer Waschschüssel aus lackiertem Blech und wusch sich die Hände. Ihr schmales Gesicht war bleicher geworden, ernster, verbissen fast. Nur in ihren Augen lag weiter die Wildheit, die schon
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