Der Himmel über Kasakstan
Trockenfisch. Er hängt unter dem Dach.«
»Und Trinkwasser?«
»Siebt das Flußwasser durch. Es geht mit einem Seidenschal. In zwei Wochen könnt ihr wieder essen wie die Fürsten.«
»Wenn wir sie überleben.« Svetlana sagte es ganz ruhig. Es durchrann Boris wie ein feuriger Strom. Er kam auf Boborykin zu, die Fäuste geballt.
»Laß von deinen drei Gewehren eines hier!« sagte er leise. Andreij Boborykin kniff die Augen zusammen. Es war, als wüchse sein Gesicht vollends mit Haaren zu; es glich einer großen, flachen, haarigen Masse.
»Werde nicht wild, Deutscher«, sagte er brummend. »Ich sage es dir … werde nicht wild! Ich kann mit wilden Tieren umgehen.«
»Du kannst uns hier nicht verhungern lassen!«
»Ich habe euch nicht zu mir gebeten.«
»Natascha Trimofa hat dir getraut –«
»Sie ist in Karaganda.«
»Das ist nicht wahr!« schrie Svetlana auf. Sie umklammerte den Arm Boris'. In ihren Augen stand helles Entsetzen. »Sie ist unseretwegen nach Karaganda gekommen?«
»Konjew erzählte es mir. Ihr Haus steht leer. Es soll jetzt ein Arzt nach Judomskoje kommen. Ein ehemaliger politischer Sträfling, der zehn Jahre Sibirien hinter sich hat.« Boborykin hob die breiten Schultern. »So ist das Leben, mein Täubchen. Karaganda ist schlimmer als zwei Wochen Hunger.«
Boris riß sich von Svetlanas Griff los. Er stürzte zum Eingang der Hütte. Gleich hinter der Tür, in einem Holzständer aus Birkenstämmen, den sich Boborykin selbst gezimmert hatte, standen die beiden anderen Gewehre.
Boborykin erriet die Gedanken Boris. Brüllend rannte er hinterher, ergriff Boris am Hemd und riß ihn zurück, bevor dieser das Haus erreicht hatte.
»Du Hund!« schrie er. »Du Schwein! Mir das Gewehr wegnehmen!«
Boris schlug zu. Er traf Boborykin zwischen die Augen. Aber es war, als schlüge er auf einen Felsblock. Seine Faust prallte ab und schmerzte, als habe er sie gebrochen. Boborykin grunzte laut.
Dann hob er seine Hand, ließ sie auf den Kopf Boris' fallen, es klatschte laut, Boris sank zusammen, als stützten den Körper keine Knochen mehr.
»Deutsches Pack!« sagte Boborykin.
Er nahm seine drei Gewehre über die Schulter und ging weg durch den Sumpf.
*
Der Zug, der von Alma-Ata mit den zweihundert neuen Sträflingen nach Karaganda abging, stand auf einem Nebengleis des riesigen Güterbahnhofes und wartete auf die Nacht.
Major Waska Iwanowitsch Poltezky sah noch einmal die Transportlisten durch. Gewissenhaft war hinter jedem Namen der ehemalige Wohnort und der Beruf vermerkt. Bei dem Namen Natascha Trimofa stutzte er. Eine Ärztin? Was macht eine Ärztin bei den Sträflingen? Rußland ist stolz auf seine Ärzte und auf die Erfolge, über die die Welt staunt.
»Hol mir die Trimofa!« rief er einem Unteroffizier zu, der als Wache vor den geschlossenen Waggons hin und her ging.
Der Unteroffizier rannte fort. Nach fünf Minuten war er wieder zurück, ohne Natascha Trimofa. Major Waska Poltezky legte verblüfft die Papiere hin.
»Wo ist sie?« schrie er.
»Im Waggon 4, Genosse Major.«
»Und warum hast du sie nicht mitgebracht?«
»Sie will nicht.«
»Sie –« Major Poltezky legte seine Fäuste auf die Akten, als wäre ein starker Wind gekommen, der sie wegreißen könnte. Die Ungeheuerlichkeit, daß sich in Rußland jemand weigerte, einem Befehl nachzukommen, verschlug ihm die Sprache. Er starrte den Unteroffizier an und schüttelte den Kopf. »Und da bist du einfach weggelaufen, du Idiot? Wozu hast du dein Gewehr?« Er sprang auf und schüttelte die Fäuste. »Man sollte euch alle nach Sibirien schicken!« brüllte er. »Du bringst die Ratte sofort her! Sofort! Und wenn du sie an den Haaren herbeischleifst!«
»Sie ist im Waggon bei einer Kranken, Genosse Major. Sie sagt, die Kranke habe Typhus. Sie macht Wickel.«
»Wickel! Auf einem Transport nach Karaganda! Das muß ich sehen!«
Natascha Trimofa drehte den Kopf nur zur Seite und blickte dann wieder auf die fiebernde Kranke, als Major Poltezky die Waggontür aufriß und in den Wagen sah.
»Trimofa!« brüllte er.
»Genossin Trimofa!« sagte Natascha gleichgültig.
»Ein Staatsfeind ist keine Genossin mehr!« schrie Poltezky.
»Und lautes Schreien ist noch keine Qualifikation für einen Offizier!«
Der Unteroffizier grinste. Poltezky kniff die Augen zusammen und schwieg. Er sah die Ärztin auf dem Waggonboden knien und einem phantasierenden, um sich schlagenden Mädchen Wadenwickel machen, um das hohe Fieber herunterzudrücken.
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