Der Himmel über Kasakstan
er philosophisch.
»Oder wenn es nicht soviel Idioten gäbe!« brummte Boborykin.
*
Natascha Trimofa und Boris schlichen durch den verschneiten, frostklirrenden Wald, um etwas Eßbares zu suchen.
Seit drei Tagen war ihr Trockenbrot und ihr Salzfleisch zu Ende. Erna-Svetlana hatte erfrorene Vögel gerupft und gebraten, die Natascha im Schnee aufgelesen hatte. Zuletzt, das war gestern, hatte Svetlana eine Suppe aus Wurzeln gekocht, mit Schneewasser, in, dem die geschabten Wurzeln wie Nudeln schwammen. Aber sie waren so hart, daß man glaubte, Holzscheite zu kauen.
In diesen drei Tagen hatte Boris mit seinem Spaten einige kleine Fallgruben geschaufelt. Eine mühselige Arbeit, denn der Boden war eisenhart und hätte gesprengt werden müssen. Er legte die Fallgruben dort an, wo er Hasenspuren gesehen hatte.
Einmal sahen sie auch die Tatzenspuren eines Bären, und in der Nacht hörten sie ihn brummend um die Höhle tappen. Die Pferde zitterten, aber sie erhoben sich nicht. Sie lebten nur noch von Schneewasser und magerten von Stunde zu Stunde ab. Der Goldene von Boris war bereits so schwach, daß er sich nicht mehr erheben konnte, sondern auf der Seite lag, den Kopf flach auf dem vereisten Boden und Boris nur aus seinen bernsteinfarbigen Augen ansah, als könne er in diesen Blick die ganze Qual und den ganzen Vorwurf legen.
»Er wird der erste sein, den wir töten«, sagte Natascha Trimofa. Da ging Boris weg, hinaus in den Schnee, setzte sich in dem Hohlweg auf einen Stein und weinte bitterlich.
An diesem Tage sahen sie auch, wie gefährlich sie lebten. Als sie durch die Felsen tappten, um Holz zu suchen, sahen sie auf einem Vorsprung drei Menschen stehen. Sie warfen sich sofort in den Schnee und warteten, was geschehen würde.
»Es sind Rotarmisten«, flüsterte Natascha in Boris Ohr. »Eine Patrouille. Wir müssen in der Nähe der Grenze sein. Der Noyon sagte ja, daß die Grenze bewacht ist. Irgendwo in den Felsen muß der Stützpunkt sein.« Sie legte den Kopf in den Schnee und atmete hastig. »Jetzt dürfen wir auch nicht mehr schießen. Jeder Schuß lockt sie heran.«
»Aber wie sollen wir weiterleben ohne Gewehre?« keuchte Boris.
Natascha zuckte mit den Schultern. »Lautlos leben oder lautlos sterben … wir haben die Wahl. Wenn sie uns finden, erschlagen sie uns wie streunende Wölfe.«
Sie krochen zurück und wandten sich seitlich in die Schluchten.
»Wir sagen Erna-Svetlana nichts davon«, bat Boris. Natascha schüttelte den Kopf.
»Natürlich nicht.« Sie wandte den Kopf zu ihm um. »Hast du sie sehr lieb, Boris?«
»Ich habe ihretwegen einen Mord begangen, du weißt es.«
»Du würdest alles für sie tun?«
»Alles, Natascha Trimofa.«
»Dann vergiß nicht, sie zu töten, wenn uns die Rotarmisten entdecken.«
Boris Horns Gesicht wurde weiß wie der Schnee, durch den sie tapsten. »Das … das … nie, Natascha!«
»Denk an deine Mutter, Bor …«
Mit gesenktem Kopf ging Boris weiter.
Warum leben wir überhaupt, dachte er. Was hat sich Gott gedacht, als er uns auf die Erde setzte?
Das Knirschen des Schnees unter seinen Tritten war in seinen Ohren so laut wie das Zerbrechen von Knochen. Aufhören, wollte er schreien und die Hände an die Ohren drücken. Aufhören mit dem Zerbrechen der Knochen! Aufhören!!!
Er zuckte zusammen, als sich Nataschas Hand auf seine Schulter legte.
»Vielleicht aber müssen wir es gar nicht«, sagte sie fast mütterlich weich. »Vielleicht überleben wir den Winter und kommen nach Indien. Was wäre das Leben ohne ein Vielleicht … Es ist der Kitt, der die Scherben unserer Hoffnungen zusammenhält.«
*
Am vierten Tag fanden sie einen Hasen in einer der Fallgruben. Es war ein mageres Tierchen, so schwach und ausgehungert, daß es erfroren sein mochte, kaum daß es in die Grube gefallen war. Aber es reichte für zwei Tage, wenn man es briet. Zum Braten aber brauchte man Feuer, brauchte man Holz.
Boris hatte in einem Felsental eine kleine Baumgruppe entdeckt. Windzerzauste, niedrige Kiefern, den Latschen der Alpen ähnlich. Sie bildeten ein undurchdringliches Dickicht von etwa fünfzig Metern im Kreis, ein grüner Fleck in dem unendlichen Weiß und den glatten, himmelansteigenden Felsen.
Aus diesem ›Wald‹ heraus hieben sich Natascha und Boris die Zweige und dünnen Stämmchen für ihr Feuer.
»Wenn wir den Winter hier überleben«, sagte Natascha einmal, »gibt es hier keinen Busch mehr. Jetzt sieht man erst, wieviel Holz der Mensch zum Leben braucht. Zum
Weitere Kostenlose Bücher