Der Himmel über New York (German Edition)
Samstagabend-Fernsehshow einfach abzuhauen, weil das Treppenhaus so übel riecht. Nach Bohnerwachs und Spießigkeit . Ich mag die Textzeile. Ob er geahnt hat, dass New Yorker Flure das Gleiche ausschwitzen? Enge, Alltag, Bratkartoffeln?
Ich folge Anne in den Lift. An der Wand hängt ein Inspektionszettel in einem Holzrahmen. Zuletzt ist das Gebäude vor elf Monaten kontrolliert worden. Im zweiten Stock öffnet sich die Tür. Anne tritt auf den Korridor und steckt ihren Schlüssel in die Mitte eines grün lackierten Türknaufs. »Es ist vielleicht nicht das Hilton«, sagt sie, »und ich hoffe, meine Unordnung stört dich nicht. Aber ich glaube, du kannst es dir hier schon gemütlich machen. Fühl dich einfach wie zu Hause.«
Blöde Floskeln, denke ich, wahrscheinlich haben die Sofakissen einen Knick in der Mitte und die Kaffeemaschine steht genau im rechten Winkel zur Brotschneidemaschine, aber die Wohnung ist tatsächlich nicht besonders aufgeräumt. In der Diele riecht es säuerlich und an der Wand neben dem Eingang sind kniehoch alte Zeitungen gestapelt.
Das Zimmer, in dem ich die nächsten dreißig Nächte verbringen werde, ist nicht unordentlich, es ist nur dunkel. Ein winziges Fenster führt auf einen Lichtschacht hinaus. Verirrte Sonnenstrahlen fallen auf das Bett mit der schmutzig weißen Tagesdecke und den bestickten Kissen. Ich stelle meinen Koffer ab, setze mich und wippe ein bisschen auf der Matratze auf und ab.
»Bis nachher«, sagt Anne und geht zur Tür. »Melde dich einfach, wenn du ausgeschlafen hast.«
Ich lasse mich rückwärts fallen und starre an die Decke. Die weiße Lampe hat von innen schwarze Flecken wie von Fliegenleichen. Das Bett riecht, als hätten die Decken in einem feuchten Keller auf der Leine gehangen.
Ich habe mir nie überlegt, was ich tun würde, wenn ich in New York ankomme. Ich bin davon ausgegangen, mein Leben würde beginnen, wenn ich meinen Fuß ins Flughafengebäude setze. Ein Film voller Abenteuer. Action. Spannung. In der Hauptrolle: Jenny. Jetzt fällt mir nichts Besseres ein, als meinen Koffer zu öffnen und mechanisch Kleiderstapel in einen Wandschrank zu schichten. Das dauert ungefähr acht Minuten. Dann habe ich nichts mehr zu tun.
Ich lasse mich auf das Bett sinken und stelle mir vor, Max wäre da, hätte den Arm von hinten um mich geschlungen, einen Finger in meinem Nabel. Wie er es früher gemacht hat. Während ich nachrechne, wann dieses »Früher« aufgehört hat, fallen mir die Augen zu. Im Einschlafen schwebt plötzlich ein anderes Bild durch mein träges Hirn: dunkle Augen mit goldenen Einsprengseln über dem Rand einer verspiegelten Sonnenbrille, muskulöse Männerbeine in Shorts. Und dann wird alles sehr undeutlich.
Es ist kurz nach sieben Uhr abends, als ich wieder im Gastraum ankomme. In Deutschland schlafen jetzt alle. Das Lokal ist leer. Die Müllberge sind verschwunden. Ein Mädchen etwa in meinem Alter, in Jeans und grüner Tunika, sitzt am Tisch, beugt sich über die Resopalplatte. Rot gefärbte Haare hängen ihr wie ein Vorhang ins Gesicht. Sie ist konzentriert dabei, künstliche Fingernägel auf ihre eigenen zu kleben. Mindestens fünf Zentimeter lang, schwarz mit silbernen Streifen. Ich schaue ihr über die Schulter und sie dreht sich um.
»How may I help you?« , fragt sie und lächelt. Auch ihre schweren Ohrringe sind schwarz und silbern. Ich wundere mich über die Frage. Bei was soll sie mir denn helfen?
»Ich suche Anne«, sage ich, »Anne Koslowsky.«
»Oh, dann musst du Jenny sein? Aus Europa? Ich heiße Concepción, aber meine Freunde nennen mich Conny.«
Jenny aus Europa. So hat mich noch nie jemand begrüßt. Länder, Städte und Stadtteile schrumpfen auf mikroskopische Größe, wenn man sie von so weit weg betrachtet. Wenn mich in Freiburg jemand fragt, wo ich wohne, sage ich, ich bin aus der Wiehre. Wenn mich in Stuttgart jemand fragt, antworte ich »Freiburg«. Schon in Spanien reicht das Wort Deutschland . Für Conny aus Queens bin ich die Europäerin .
Sie bringt den letzten Nagel in Form, steht mit gespreizten Fingern auf und hält mich an beiden Ellenbogen fest. Dabei drückt sie mir erst links, dann rechts einen Kuss auf die Wange.
»Du arbeitest hier?«, frage ich.
»Ja, aber nur vorübergehend«, plappert sie gleich los. »Ein bisschen Kohle machen. Im Herbst will ich auf die Academy of Performing Arts, und das wird teuer. Natürlich bewerb ich mich gleichzeitig auch beim Fernsehen, gibt ja genügend Talentshows,
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