Der Himmel über New York (German Edition)
singen. Und eine junge Frau mit glatten Haaren und einer großen, runden Brille, die mich anspricht und zu einem Gottesdienst einlädt. Als ich ablehne, drückt sie mir ein Faltblättchen in die Hand. Fit for paradise: Ten questions about Jesus.
Nein, ich bin nicht von New York enttäuscht, eher von mir selbst. Vor allem hätte ich nicht gedacht, dass mich jeder als Touristin enttarnt. Aber kaum falte ich meinen Stadtplan auf, stehen freundliche ältere Herren oder Frauen mit Einkaufstüten hinter mir und fragen mich, wo ich hinmöchte. Als Gegenleistung muss ich ihnen erzählen, wo ich herkomme. Manche kennen Freiburg sogar ( »Oh, in the Black Forrest, isn’t that the part of Germany where cuckoo clocks come from?« ). Anderen fällt zu Süddeutschland nur München ein ( »Oh, the Oktoberfest!« ). Weil ich weder über Kuckucksuhren noch über Maßkrüge reden möchte, habe ich mir angewöhnt, mich zum Stadtplanlesen in Hauseingänge zu verdrücken. Dabei muss ich nur manchmal aufpassen, dass ich nicht einem Bettler auf die Füße trete, der mir für einen Dollar ebenfalls den Weg erklären möchte.
Am Freitagmorgen habe ich zum ersten Mal ein Erfolgserlebnis. Drei Asiaten mit Baseballkappen und Polyesterjacken sprechen mich im Battery Park an, auf dem Weg zu den Anlegestellen der Fähren, die zur Freiheitsstatue und nach Ellis Island fahren. »Excuse, Miss, where is Subway?« Ich deute hinter mich und erkläre ihnen, dass sie die Treppe mit den grünen Kugeln auf den Pfeilern davor nehmen müssen. Als ich mich weiter durch die Menschenmenge zum Ufer dränge, hoffe ich inständig, dass sie mich für eine Einheimische gehalten haben. Das wäre ein Punktsieg.
Die Freiheitsstatue ist nicht besonders groß. Von hier aus wirkt sie beinahe winzig. Verloren steht sie auf ihrem Sockel und streckt ihre Fackel in die Luft. Das Meer um sie herum sieht aus wie flüssiger Beton. Die Stadt brütet unter tief hängenden Wolken, als denke sie über etwas nach. Möwen schaukeln auf den Wellen oder stürzen sich auf Brötchenreste aus den überquellenden Papierkörben. Hinter mir die Skyline mit Häusern wie bizarre Riesenspielzeuge: ein Legoturm, ein aufgeschraubter Filzstift, ein Flaschenkorken.
Ich blicke zwischen der Südspitze Manhattans und dem Ozean hin und her und stelle mir vor, wie es für die Auswanderer gewesen sein muss, wenn sie hier ankamen. Übernächtigt müssen sie gewesen sein, hungrig und immun gegen ihren eigenen Schweißgeruch. Ob es ein erhebendes Gefühl war, von der Freiheitsstatue begrüßt zu werden? Oder ob manche von ihnen so wenig fühlten wie ich beim Anblick der Plastik-Kopie am Flughafen von Newark?
Und wie es wohl den Passagieren ging, die umkehren mussten? Soll ja passiert sein: dass jemand schon auf einem Holzstuhl in dem rosafarbenen Gebäude auf dem Inselchen Ellis Island saß, schon die Häuser von Manhattan erkennen konnte, schon sein neues Leben vor sich sah, seinen eigenen Gemüseladen, seine eigene Schneiderei. Von was auch immer diese Leute träumten. Dass jemand aus seinen Träumen geweckt und im letzten Augenblick zurückgewiesen wurde.
»Du hustest, willst du die Tuberkulose in die Stadt bringen?«
»Was ist mit deinem Bein, du hinkst, wir können hier keine Kranken gebrauchen.«
Im Hintergrund Lady Liberty, die teilnahmslos zusieht. Ihre Worte gelten nicht für jeden.
Gib mir deine müden, deine armen, zusammengepferchten Massen, die sich nach Freiheit sehnen .
Plötzlich reißen mich Stimmen in einer vertrauten Sprache aus meinen Gedanken und ich drehe mich um. Hinter mir steht eine Reisegruppe, und wenn sie nicht deutsch gesprochen hätten, hätte ich mir trotzdem denken können, aus welchem Land sie kommen. Niemand trägt seine Trekkingsandalen, seine auffällig unter dem Hemd versteckten Brustbeutel und seine Rucksäcke mit den vielen Fächern mit solcher Begeisterung wie meine Landsleute.
»25 Dollar, das sind fast 20 Euro! Was ist denn das für ein Preis-Leistungs-Verhältnis!«, empört sich ein älterer Mann mit neckisch umgedrehtem Käppi. »Für das Geld bekomme ich in Bad Nauheim schon fast einen Hubschrauberflug und hier gerade mal die Fahrkarte und den Eintritt in die Freiheitsstatue!«
»Dafür siehst du dort vom Hubschrauber aus nur Bad Nauheim«, sagt ein Mädchen in meinem Alter trocken. »Und hier siehst du New York. Das ist ja wohl ein paar Dollar wert, Papa.«
»Aber dafür müssen wir stundenlang anstehen«, mischt sich eine Frau ein. »Schaut doch
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