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Der hinkende Rhythmus

Der hinkende Rhythmus

Titel: Der hinkende Rhythmus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gaye Boralıoğlu
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ihrem Zeigefinger ans Kinn und tat so, als würde sie nachdenken. Eine Farbe nach der anderen glänzte ein ganzer Regenbogen in ihren Augen. Halil hätte sie jetzt am liebsten umarmt und geweint. »Tu das nicht!«, hätte er sie am liebsten angefleht. »Ich möchte sterben, siehst du das nicht?«
    Aber er brachte kein einziges Wort heraus. Er stand bloß wie verblödet da und wartete ab, dass Güldane ihr Spiel weiter inszenierte.
    Güldane klopfte mit dem Fuß patsch patsch auf den Boden und verlieh somit ihrem Bild auf der Suche nach einem Ausweg mehr Überzeugungskraft.
    »Hm … was sollen wir jetzt machen, was sollen wir jetzt machen!«
    Dann verwandelten sich alle Farben in ihren Augen in eine einzige: in Rot.
    »Ich hab’s!«, sagte sie, als wäre es ihr erst jetzt eingefallen. »Du kannst mir auch die Hände zubinden.«
    Sie ging ans Fenster und warf einen Blick hinaus. Schnell sprach sie weiter:
    »Jetzt ist es auch dunkel draußen. Binde mir die Augen mit einem dünnen Band zu … Guck, sogar das tut’s.« Sie hielt Halils Krawatte in der Hand, die sie sich vom Bügel an der Wand geschnappt hatte.
    »Ich ziehe mir die Kapuze über den Kopf, guck, so.« Sie zog sich ihre Kapuze über.
    »Dann bindest du mir auch die Hände. Von hinten.«
    Sie faltete ihre Hände auf dem Rücken zusammen. Sie schloss die Augen und mimte sich selbst.
    »Dann laufe ich so … Ich schau auf den Boden … Ist ja eh dunkel. Niemand merkt was. Der Wagen steht ja vor der Tür, oder? Nach paar Schritten sind wir schon da. Niemand wird es sehen.«
    Halil wusste, dass ihm nichts anderes übrigblieb … Aber all dies hätte er tun müssen, ohne dass sie es sagte, er hätte sie zwingen und sie hätte schreien müssen. Sie hätte sich wehren müssen. Halil hätte ihre Hände mit Gewalt zusammenbinden und sie ins Auto schieben müssen … Trotzdem widersprach er nicht und band Güldane mit der Krawatte, die sie ihm reichte, die Augen zu.
    »Das riecht nach Parfüm«, kicherte sie. Dann zog sie sich die Kapuze über den Kopf. Sie faltete ihre Hände auf dem Rücken zusammen.
    »Jetzt die Hände«, sagte Güldane. »Aber nicht zu fest.«
    Halil band ihre Hände aneinander.
    »Jetzt musst du mich am Arm festhalten, damit ich nicht stürze und mir irgendwas breche.«
    Halil hielt sie am Arm fest.
    »Aber jetzt ist das so, als würde ich weglaufen, also als würdest du mich zwingen … Am besten, hak dich bei mir ein. Dann fallen wir weniger auf.«
    Halil hakte sich bei ihr ein. Seine Hände zitterten. Er konnte es nicht verhindern, obwohl er seinen ganzen Willen aufbrachte.
    »Lass mich nicht fallen, okay?«, bat Güldane gespielt.
    So kamen sie am Auto an. Jetzt floss für beide die Zeit langsamer, als sie es wirklich tat. »Mach mir die Tür auf, so, als wäre ich eine Dame, ja? Ich kann sie nicht selbst öffnen«, sagte Güldane, kurz bevor sie am Wagen ankamen.
    Halil tat, wie ihm geheißen. Er öffnete Güldane die Tür, half ihr, sich hineinzusetzen, und schlug sie zu. Dann lief er auf die Fahrerseite und stieg ein. Seine Gesichtszüge waren entglitten. Seine Gedanken irrten zwischen den Regenbogenfarben in Güldanes Augen. Er ließ den Motor an. Sie machten sich auf den Weg.
    Güldane sang leise vor sich hin. Dazu schlug sie den Rhythmus mit ihrem Fuß. Was sie sang, war eines der Stücke, die Yunus bei den Vorführungen spielte.
    Sie hatten sich Dolapdere genähert, als Halil scharf bremste. Er stieg nicht aus, sondern löste mit eiligen Handgriffen zuerst die Augenbinde, dann die Hände des Mädchens. Wutentbrannt stieß er ihre Tür auf.
    »Geh raus«, sagte er. »Schnell!«
    Güldane stieg aus. Kaum stand sie mit beiden Füßen auf dem Boden, raste Halil mit quietschenden Reifen davon.

    Yunus schlief in seinem Bett, als Güldane zu Hause ankam. Offensichtlich wollte er mit dem letzten Ei, das ihnen noch geblieben war, ein Spiegelei machen, hatte es anbrennen lassen, aber trotzdem versucht, alles bis zum letzten Rest aufzuessen. Und eine Zwiebel … nach dem Inhalt des Mülls zu urteilen, hatte er auch eine Zwiebel gegessen. Die Pizzateilchen in Güldanes Magen flüchteten sich peinlich berührt in alle Himmelsrichtungen.
    Güldane setzte sich auf das Sofa und betrachtete ihren Bruder lange. Sein ohnehin zarter Körper war noch dünner geworden. Er hatte den Gürtel seiner Hose sehr eng geschnallt. Die Hose war ihm zu kurz; darunter sah man seine dünnen Beine und die nackten Füße, die mit ihren großen Knochen gar nicht zu

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