Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der hinkende Rhythmus

Der hinkende Rhythmus

Titel: Der hinkende Rhythmus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gaye Boralıoğlu
Vom Netzwerk:
sich ohne Worte verständigt. Und dann hatten sie um Mitternacht die Tamburinklänge vernommen und gemerkt, dass der ersehnte Augenblick nicht weiter hinausgezögert werden durfte. Die Trauer war zu Ende!
    Nun hatten sich alle vor dem Fenster versammelt. Das Tamburin schwieg. Es begann ein verschwitztes, atemloses, stilles Warten. Endlich wurde drinnen eine fahle Kerze angezündet. Dann ging der Vorhang auf und ein Baum der Wünsche stand vor ihnen! Der feine Schrei einer Geige durchbrach die Stille, zu ihren Melodien gesellte sich ein schwungvolles Tamburin und in seinem Gefolge eine untröstliche Klarinette … In Begleitung dieser gemächlichen Musik, die aus einem knisternden Kassettenrekorder kam und bis in die inneren Organe eindrang, tanzte Güldane wie ein geschmeidiger, überall behängter Baum, der sich im Wind biegt und windet. Die jungen Männer waren von diesem unerwarteten Anblick so verblüfft, dass sie nicht einmal blinzelten; sie wollten nicht ein Tausendstel dieses magischen Moments verpassen.
    Güldane löste eines nach dem anderen ihre Bänder vom Körper. Jedesmal, wenn sie sich von einem befreite, gab sich ein Teil ihrer Haut den Blicken preis. Und mit jeder entblätterten Partie ihres Körpers wurden die männlichen Knie ein wenig weicher.
    Als die Musik zu Ende ging, hatte Güldane nichts als wenige Fetzen am Leib, die ihr Intimstes eher notdürftig bedeckten. Die Zuschauer waren völlig gebannt. Selbst nachdem Güldane die Kerze ausblies und den Vorhang zuzog, konnten sie sich nicht rühren. So verharrten sie eine ganze Weile reglos vor dem Fenster. Danach kehrten sie, darüber grübelnd, was ihnen diese Nacht in ihrem entbehrungsvollen Leben bedeutete, schweigend in ihre Häuser zurück. Welche Sünden sie dann in ihren einsamen und kalten Betten begingen, weiß nur Gott!
    Yunus kam mit prallgefüllten Plastiktüten nach Hause: Käse und Salami, eingefrorene Köfte, Schokolade und Sonnenblumenkerne. Er empfand sich als der glücklichste Mensch im ganzen Viertel, in ganz Dolapdere, ganz Beyoğlu, ganz Istanbul, in der ganzen Türkei und vielleicht sogar in der ganzen Welt.
    Nachdem er das Geld eingesammelt hatte, war er schnurstracks in ein Lebensmittelgeschäft gegangen, das rund um die Uhr geöffnet war, hatte alles, was er seit Monaten vermisste, wovon er die ganze Zeit träumte, von den Regalen genommen und in die Tüten gepackt und zwei Überraschungseier in die Tasche gesteckt. Für Güldane und für sich selbst. Zwei Überraschungseier!
    Und jetzt schnell nach Hause. Güldane wartet bestimmt auf ihn, angezogen, die Haare gekämmt und mit einem Kopftuch geschmückt. Yunus leert den Inhalt der Tüten auf den Tisch, Güldane rennt auf ihn zu und wirft sich ihm um den Hals. Sie decken den Tisch und es gibt ganz viel zu essen, ganz viel zu trinken. Eier mit Knoblauchwurst, Pasta mit Käse, Milch mit Kakao … Sie schlagen sich die Bäuche voll und lachen so viel, dass ihnen die Tränen kommen. Vielleicht rauchen sie sogar gemeinsam eine Zigarette … Später, da wollen sie schon schlafen gehen, zieht Yunus die Überraschungseier aus der Tasche. »Wow!«, ruft Güldane. »Hurra! Die liebe ich.« In jeder Hand ein Ei, fragt Yunus: »Welches?« »Das rechte«, sagt Güldane, oder vielleicht: »Das linke.« Eine Weile kann sie sich nicht entscheiden. Mal will sie das linke haben, mal das rechte. Schließlich legt ihr Yunus das Ei ihrer Wahl in die Hand. Sie öffnen ihre Eier. Essen die Schokolade und fügen gleichzeitig die Spielzeugteile zusammen, die aus den Eiern herauskommen. Güldanes Spielzeug ist komplizierter, sie schafft es nicht allein. Natürlich hilft ihr Yunus. Die fertigen Spielzeuge stellen sie an Güldanes Kopfende auf. Im Traum lachen sie weiter, sie kichern die ganze Nacht.
    Yunus malte sich das alles aus, während er durch die Tür trat und rief:
    »Güldane!«
    Kein Ton.
    Er rief noch einmal:
    »Güldane!«
    Er wurde unruhig. Er stellte die Taschen einfach auf dem Boden ab. Er eilte hinein. Im Schlafzimmer, in der Küche, auf der Toilette, überall suchte er nach ihr. Sie war nicht da. Güldane war weg!

    Halil kam gegen Morgen nach Hause. Seit vierundzwanzig Stunden war er unterwegs. Ihm schliefen die Beine ein, sein Gehirn war ein Ameisenhaufen. Eigentlich war das auch sein Wunsch gewesen: so erschöpft zu sein, dass er nicht mehr nachdenken konnte. Mit irgendetwas beschäftigt zu sein, das alle anderen Tätigkeiten ausschloss. Deswegen hatte er alle Fahrten des Tages

Weitere Kostenlose Bücher