Der hinkende Rhythmus
unterbrach er den Lauf seiner Phantasiebilder … um sich alle Ereignisse wieder und wieder in Erinnerung zu rufen, wobei seine ganze Aufmerksamkeit nur Güldane galt.
Beim letzten Mal, kurz bevor er vor Erschöpfung einschlief, wurde Halil von einem schwer zu widerstehenden Wunsch erfasst. Er wollte weinen, und nicht nur das, er wollte auf Güldanes Schoß weinen. Wollte sich an sie lehnen, bei ihr Zuflucht finden, wollte alles tun, was sie verlangte. Von diesem kleinen, zarten Körper erhoffte er sich Rettung; und zwar so, als hätte er sonst keine andere Möglichkeit, keine andere Chance!
Er hatte keine Chance, er saß in der Falle, er war gefangen. So wie die Sonne bei einer Sonnenfinsternis gefangengenommen wird und der Mond bei der Mondfinsternis. Ein Zustand der Unmöglichkeit und einer Ratlosigkeit, die jede Bewegung unterbindet.
Halil hielt diese Unruhe nicht aus, sein Körper gab auf. Langsam senkten sich die schweren Lider. Sich in der Dunkelheit zu verstecken, erleichterte ihn für einen Moment. Er entspannte sich und versank in einen tiefen Schlaf.
Als Güldane erwachte, war der Tag noch nicht angebrochen. Yunus schlief in dem Bett neben ihr. Wie ein Baby im Mutterleib hatte er die Knie an den Bauch gezogen, sich in seine Decke gehüllt und ganz klein zusammengerollt. In seinem Gesicht lag ein trauriger, fast zorniger Ausdruck. Oder vielleicht kam es Güldane nur so vor.
Dann drehte sie sich um und sah aus dem Fenster. Der Wind hatte sich gelegt. Während sich der Himmel rötete, lag eine unheimliche Stille über den Gassen von Dolapdere; die Ruhe nach dem Sturm! Ein Lichtstrahl, der woher auch immer kam, erhellte die Schultern ihres Vaters, der sich mitten auf dem Platz erhob. Güldane kam es vor, als würde er die Schultern hängen lassen, weil er alles mitbekommen hatte. Der Arme! Vielleicht hatten sie einen großen Fehler begangen, indem sie ihn hierher brachten, seine Seele in Beton einsperrten und ihn das ganze Geschehen beobachten ließen. Vielleicht musste er jetzt zusehen, wie seine Frau ihn betrog, in welchen seltsamen Strudel seine Tochter gestürzt war, wie sein Sohn dahinschmolz, und musste sich in unendlichen Qualen winden. Vielleicht hatten die Bewohner des Viertels die Hölle des armen Cevdet mit ihren eigenen Händen gezimmert.
Schließlich beschloss Güldane, der Pein ihres Vaters ein Ende zu setzen. Cevdet sollte nicht mehr sehen, was weiter geschah. Er sollte nicht mehr erfahren, was sich in der Welt ereignete, die er hinter sich gelassen hatte. So würden alle zu etwas mehr Ruhe finden, alle!
Güldane legte sich ein Tuch um und ging hinaus. Sie lief auf Cevdet zu. Darauf bedacht, möglichst leise zu sein, zog sie die Mülltonne vom Wegesrand neben die Betonstatue. Sie kletterte auf die Tonne. Mit Halils Krawatte, die sie aus ihrer Tasche zog, verband sie Cevdet die Augen. Dann stieg sie ab, gab der Mülltonne einen Fußtritt und ging wieder zurück.
Baum der Wünsche
In jener Nacht, während sich alle Wolken Istanbuls über Dolapdere zusammenzogen, um zu verhindern, dass der Schein des Mondes an seinem vierzehnten Tag die Erde erhellte … während ein unerhört seltsamer Rhythmus von Yunus’ Tamburin zum Himmel emporstieg … während junge Männer, die diese Laute hörten, immer ungeduldiger wurden … stand Güldane vor der Kommode ihrer Mutter, vor dem Spiegel mit dem abgebrochenen Rand und trug sich einen zigeunerrosa Lippenstift auf; sie war ganz nackt.
Die Lippen rosa, die Wangen rosenrot, die Augen meeresblau, nahm Güldane das Tuch von ihrem Haar ab. Ein roter Wasserfall wallte über ihre Schultern hinunter.
Sie öffnete den Kleiderschrank. Von Safiye zurückgelassene Kleider und Cevdets Hemden warf sie aufs Bett. Sie nahm eine Schere und schnitt sie alle in Streifen. Jeden dieser Streifen band sie um ihren Körper.
Mit einem roten aus einem Rock ihrer Mutter bedeckte sie ihre Brüste. Einen blaukarierten von einem Hemd ihres Vaters wickelte sie um ihre Waden. Einen anderen mit grünen Blumen legte sie um ihren Bauch, mit einem orangenen bedeckte sie ihre Hüften. So band sie sich vielleicht hundert Fetzen um.
Die jungen Burschen des Viertels, die schon lange nach einer aufregenden Schau gedürstet hatten, folgten, den Märchenratten gleich, die hinter dem Flötenspieler hertaumeln, Yunus’ Tamburin bis vor das gewohnte Fenster. Eines schönen Tages Cevdet auf einmal mit verbundenen Augen vorzufinden, schien alle erleichtert zu haben. Es war, als hätte man
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