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Der hinkende Rhythmus

Der hinkende Rhythmus

Titel: Der hinkende Rhythmus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gaye Boralıoğlu
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diesen Beinen passten. Er hatte sein Hemd falsch zugeknöpft und sein Tamburin umarmt, so wie man ein Baby in die Arme schließt.
    Eigentlich war er ein schönes Kind. Seine hervorstehenden Wangenknochen bildeten zusammen mit seinem feinen Kinn so etwas wie ein Fragezeichen. Die leicht mandelförmigen Augen und die frechen Haarsträhnen, die auf seine Stirn fielen, verliehen ihm etwas Männliches. Seine Haut war, bedeckt von einer Schmutzschicht, richtig dunkel geworden. In dem gleichen Maße, wie sein Körper kindlich und wehrlos schien, wirkte sein Gesicht reif und sogar etwas beängstigend. Er hatte einen zarten Bartflaum. Seine Augenlider flatterten in einem unzählbar schnellen und unregelmäßigen Rhythmus. Da regte sich Yunus ganz leicht … Er bewegte seinen Kiefer, als hätte er etwas im Mund. Dann drehte er sich auf den Rücken, und fast wäre sein Tamburin hinuntergefallen. Güldane fing es in der Luft auf. Sie stellte es sanft und geräuschlos auf dem Boden ab. Sie deckte ihren Bruder zu und legte sich ihm gegenüber. Draußen ging der Südwind.

    Ein wilder Wind ohne Halt und ohne Rast fegte über die Stadt. Im Meer schaukelten riesige Schiffe wie kleine Boote; Fischerboote, nur behelfsmäßig verankert, setzten sich in Bewegung und versuchten, sich in einen sicheren Schlupfwinkel zu flüchten. Die ganze Küstenstraße war von den Wellen klitschnass. Aus den Bosporusdampfern stiegen Fahrgäste erbrechend aus. Stromleitungen, die sich durch die ganze Stadt zogen, zitterten und sirrten. Dachziegel in den Vierteln der Armen flogen auf und prallten auf schlammige Gassen. Schilder in den Vierteln der Reichen knarrten und schaukelten. Hüte und Schirme der behüteten und beschirmten Istanbuler flogen herum; die Reichen rannten ihnen nicht hinterher, die Armen sammelten begierig die Saat des Windes auf. Dünne und kleine Leute hielten sich an Masten fest, um nicht fortgefegt zu werden. Die Ängstlichen versteckten sich in Läden. Keine einzige der Katzen war zu sehen, die sonst immer wie die eigentlichen Besitzer der Stadt durch die Gassen wanderten, und auch kein einziger der Hunde, die Knöpfchen am Ohr trugen. Auch keine Spur von riesenhaften Möwen, die sich reichlich vom Müll ernährten und schon die Gestalt von Truthähnen angenommen hatten. Mehrfamilienhäuserratten, deren Ahnen bis zu Byzanz reichten, hinterlistige Wanzen der bruchreifen Holzhäuser, blutjunge Kakerlaken, kurz, alle Geschöpfe Istanbuls waren in die tiefsten Löcher geflohen, die sie auftreiben konnten.
    Auch Halil, der auf dem Sofa, auf dem noch eben Güldane gelegen hatte, ausgestreckt lag, glich der Stadt, die unter dem Südwind ächzte. Seine Nervenleitungen zitterten und sirrten, Dachziegel in seinem Gehirn flogen auf, Schilder knarrten und hämmerten gegen sein Trommelfell. Sorgenwellen hoben sich in seinem Herzen und schlugen unentwegt auf seine Seele, und in dieser Erschütterung wurde ihm speiübel und er dachte, er müsse sich gleich übergeben. Sämtliche Knochen, die bei dem Unfall gebrochen waren, schmerzten wahnsinnig, seine Augen brannten so heiß wie in jenem Moment, als ihm Güldane den Kalkstaub entgegengeschleudert hatte. Halil suchte nach einem Halt, um nicht fortgefegt zu werden, fand aber keinen.
    Die Zeitspanne, die begann, als Güldane ohnmächtig in seine Arme fiel, und die mit ihrem Ausstieg aus dem Wagen endete, ließ Halil hundertmal wieder aufleben.
    Beim ersten Mal verabscheute er sich, weil er zu einem Spielzeug in den Händen dieses kleinen Teufels geworden war. »Bind mir doch die Augen zu …« »Wenn du willst, kannst du mir auch die Hände zubinden …« »Aber nicht wehtun, ja?« Die Worte des Mädchens und der sarkastische Ton, der sich zwischen den Buchstaben versteckte, hatten Halil wahnsinnig gemacht. Er hatte wie ein Dummkopf alles getan, was sie verlangt hatte. Er hatte sich noch vor niemandem so weit erniedrigt, sich so dumm, so armselig gefühlt. Er wollte sie nie wiedersehen; nie wieder!
    Beim zweiten Mal entdeckte Halil ihre außerordentliche Schönheit, ihre Augen, die ihn nicht mehr losließen, ihre frische, junge Haut, die den Wunsch erweckte, sich darin zu verlieren, den betörenden Duft, den nicht ihr kindlicher Körper verströmte, sondern etwas viel Tieferes, vielleicht ihre Seele. Jetzt musste er nicht nur leiden, jetzt war er gefangen von überwältigender Lust und der gefährlichen, schwindelerregenden Anziehung Güldanes. Und dieser Zustand drohte kein Ende zu nehmen. Deshalb

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