Der hinkende Rhythmus
übernommen. In der Nacht davor hatte er sich auf den Weg gemacht und ganz Istanbul durchkreuzt. Und nun kam er wieder nachts zurück.
Als er, eine Wolke der Erschöpfung vor den Augen, versuchte, die Tür aufzuschließen, stieß sein Fuß gegen etwas. Er sah hinunter und begegnete einem glänzenden Augenpaar. Dieser Glanz verjagte die Wolke, machte seinen Blick wieder sonnenklar; Güldane saß ihm zu Füßen.
Sie stand langsam auf, und bevor Halil noch etwas sagen konnte, legte sie die Finger an seine Lippen. »Scht!«, sagte sie und er blieb still. Güldane nahm ihm den Schlüssel ab. Sie öffnete die Tür. Trat hinein. Halil blieb wie angewurzelt stehen. Güldane hielt ihm die Hand hin. Sie hatte ein luftiges weißes Kleid an. Sie war wie eine Fee. Halil ergriff ihre Hand. Sie gingen hinein.
Güldane sah Halil ins Gesicht, doch er schaffte es nicht, sie anzuschauen. Seine Hand lag in ihrer.
Sie rückte ganz nah an ihn heran. Ihr Atem ging sehr schnell. Sie stellte sich auf ihre Zehenspitzen. Mit ihren Lippen berührte sie seinen Mund. Halil schloss die Augen.
Und von diesem Moment an machte er sie nicht mehr auf. Er nahm nur noch ihre Hände, ihren Körper, ihren Atem, ihr Begehren wahr.
Er wurde hin und her geweht zwischen der Magie des Intimen, der Lust des Verbotenen und dem Verschwinden in einer Unmöglichkeit.
Ohne das leiseste Zögern gab sich Güldane Halil hin. Sie berührte ihn mit jedem Millimeter ihrer Haut. Immer, wenn ihr Atem auf sein Gesicht fiel, ihre Haare seine Brust berührten, ihr Schweiß seinen Körper umarmte, verging Halil vor Lust.
Jetzt wurde eine Sünde begangen, von der kein anderer Mensch in dieser Welt erfahren würde, es wurde ein Geheimnis geschaffen, das niemals gelüftet werden sollte, und was hier in diesen Sekunden geschah, würde keine noch so schlimme Amnesie aus der Erinnerung tilgen können. Halil gab sich vielleicht zum ersten Mal in seinem ganzen Leben jemand anderem hin als sich selbst.
Sie liebten sich lange, in Wellen. Sie wurden nicht müde, machten nie Pause. Sie rollten wie eine Lawine in der Dunkelheit. Schließlich ließen sie sich in einen ewigen Augenblick fallen.
Halils Augen waren geschlossen. »Mach sie auf«, sagte Güldane.
Er öffnete die Augen. Güldane hielt ihm einen Spiegel hin. Einen ovalen Spiegel aus Messing, mit Gravuren an den Rändern. Halil schaute hinein. Er sah sein bemitleidenswert erschöpftes Gesicht; ja, zwar erschöpft, aber trunken vor Glückseligkeit. Diese Trunkenheit befremdete ihn. Er sah sich selbst gar nicht ähnlich. In diesem Gesicht lag ein Ausdruck der Hörigkeit. Eine entliehene Hörigkeit. Dann suchte sein Blick nach der Magierin, die ihn in diesen Zustand versetzt hatte.
Sie war aber nicht da! Es war keine Spur mehr von der Frau, die sich noch eben an seine Schulter gelehnt hatte; Güldanes Erscheinung im Spiegel war verschwunden. Zusammen mit ihrem berauschenden Duft hatte sie sich verflüchtigt.
Yunus wachte außer Atem, als würde ihn ein Reiter jagen, aus dem Schlaf auf. Der Tag war schon angebrochen. Wie spät mochte es wohl sein?
Dann schaute er sich um, Güldane schlief neben ihm. Sie hatte ihren Popelinpyjama an und ihr Haar war mit einem lockeren Gummiband zusammengebunden. Auf ihrem Gesicht lag ein kaum vernehmbares Lächeln. Yunus brachte es nicht übers Herz, sie zu wecken. Er ging in die Küche und begann, mit den Sachen, die er um Mitternacht gekauft hatte, das Frühstück vorzubereiten. Als er die Tomaten aufschnitt, erschien seine Schwester mit schlaftrunkenen Augen an der Tür.
»Wo warst du?«, fragte Yunus, darum bemüht, seiner Stimme einen möglichst strengen, autoritären, drohenden Ton zu verleihen. Eigentlich hatte sich, warum auch immer, seine Wut von gestern Abend gelegt; ach, wenn er sie bloß wieder verspüren könnte!
Entweder hatte ihn Güldane nicht verstanden oder sie tat nur so.
»Was plapperst du denn da?«, gab sie zurück.
Nicht ernstgenommen zu werden, kränkte Yunus. »Wo warst du, plappere ich!«, sagte er. »Wohin bist du verschwunden mitten in der Nacht?«
Güldane hatte sich bereits an den Tisch gesetzt und verspeiste mit großem Appetit den Käse.
»Ich bin nicht verschwunden, ich bin doch hier«, sagte sie gleichgültig.
Yunus war unentschlossen, ob er darauf herumreiten, der Sache auf den Grund gehen, daraus eine Affäre machen sollte oder nicht. Er zeigte auf den Tisch.
»Ich habe das alles um Mitternacht gekauft. Damit du dich freust. Ich bin krepiert vor
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