Der hinkende Rhythmus
nicht ganz bei sich, knöpfte Güldane ihren Mantel schräg zu und trat hinaus. Während sie wie im Taumel ans Ende der Gasse schritt, hörte sie jemanden nach ihr rufen. Sie drehte sich um. Der Automechaniker Muharrem hatte sich an einen Strommast gelehnt und fixierte sie. Güldane wandte sich wieder ab und wollte ihren Weg fortsetzen, da rief Muharrem noch einmal: »Güldane.« Er beließ es auch nicht dabei, sondern kam auf sie zu und lief neben ihr her, obwohl sie ihn nicht beachtete.
»Ich möchte dich nur vorwarnen«, sagte Muharrem.
Güldane erwiderte nichts, sperrte aber die Ohren auf.
»Es ist nicht gut, was du machst«, sprach Muharrem weiter. »Du bist kein Kind mehr.«
Güldane blieb stehen … Sie stemmte eine Hand in die Hüfte. Sie war überhaupt nicht in der Stimmung, sich mit ihm abzumühen, sich Ermahnungen anzuhören, zu erklären, zu streiten.
»Was willst du denn überhaupt?«, sagte sie mit saurer Miene.
»Du hast den Mist zu weit getrieben«, sagte Muharrem. »Früher waren wir alle Kinder, ein paar Kinder. Wir hatten nur ein bisschen Spaß unter uns. Jetzt rottet sich Hinz und Kunz vor dem Fenster zusammen.«
Güldane hatte zwar verstanden, was er meinte, wusste aber nicht, was sie ihm entgegnen sollte, und lief weiter.
»Jeder soll sich um seinen eigenen Mist kümmern«, sagte sie.
Muharrem fuhr fort, als hätte er sie nicht gehört: »Du bist erwachsen geworden, du bist schön geworden, du bist jetzt eine richtige Frau … aber immer noch …«
Güldane drehte sich zornig um, ihre Augen spien Flammen. Sie gab ihm einen Schubs auf die Brust.
»Willst du dann für mich sorgen oder was? Wenn ich keine Vorführungen mache, wirst du mich dann ernähren? Machst du mich dann zu deiner Mätresse, nimmst du mich als Betthase, hä?«
Jetzt stand sie Muharrem ganz nah. Ihr Atem streifte sein Gesicht, ihr Speichel, den sie wütend ausspuckte, versetzte sie in einen Rausch. Muharrem wich zurück, er schwankte. Güldane starrte ihn fest an, ihre Augen glühten wie in Erwartung einer Antwort.
»Ich … ich weiß nicht … wenn … du wi…willst … finden wir … einen Weg«, stotterte er. Güldane klatschte ihm eine stattliche Ladung Spucke ins Gesicht.
»Verpiss dich«, sagte sie, ließ Muharrem in der Mitte der Gasse stehen und marschierte davon.
Ein Knoten setzte sich in ihrem Rachen fest. Sie verspürte den Wunsch zu weinen, aber es gelang ihr nicht. In der Hoffnung, es würde ihr guttun, ging sie, wie damals in ihrer Kindheit, auf den Müllberg, setzte sich auf einen Kanister, doch auch das half nichts. Sie fand keinen Fleck, nicht einmal einen Mülleimer, wo sie ihren schönen Körper verstecken könnte.
Auf der Suche nach Rettung begann sie zu laufen. An den Rändern der breiten Straßen, zwischen den Autos, durch Staub und Abgase lief sie … und lief … und lief.
Trotz aller Widersprüche in ihren Gedanken trugen sie ihre Füße nach Mecidiyeköy, dahin, wo Halil wohnte. Am Eingang der Straße setzte sie sich auf die Bordsteinkante. Von dort aus konnte sie sein Haus sehen. Der Wagen stand davor. Und sie wusste, Halil würde bald herauskommen und zur Arbeit fahren.
So geschah es dann auch. Er trat aus dem Haus. Er wirkte irgendwie etwas blass, schien abgenommen zu haben. Er stieg in den Wagen ein, ließ den Motor an. Das Auto setzte sich langsam in Bewegung.
Fast gleichzeitig stand Güldane auf. Auch sie bewegte sich langsam in die Mitte der Straße.
Halil bemerkte zwar das Mädchen, das auf ihn zukam, aber es dauerte ziemlich lange, bis er sich davon überzeugen konnte, dass sie es war.
Güldane blieb stehen und blickte in seine Richtung. Sie breitete die Arme aus. Und schloss die Augen.
Güldane vor Halils Wagen … War das ein Trugbild? Eines der niederträchtigen Spiele, die sein Gehirn mit ihm trieb? Er war völlig überzeugt, dass in diesem Augenblick eigentlich niemand vor ihm war. Dieses Mädchen, das mit ausgebreiteten Armen vor seinem Auto stand, war eine Fata Morgana … eine, der man nur in der Wüste begegnet. Eine armselige Illusion, die ein ausgetrocknetes Leben erfunden hat. Wenn er jetzt aufs Gas drückt und einfach weiterfährt … wird nichts passieren. Und vielleicht wird sich endlich alles klären. Vielleicht werden diese dummen Tagträume aufhören. Sein Geist wird auf die richtige Bahn kommen, und er wird sich von diesem Mädchen, das wie ein Schatten durch sein Leben wandelt, befreien. Er muss nur über diesen Tagtraum hinwegrollen …
Aber Halil
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