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Der hinkende Rhythmus

Der hinkende Rhythmus

Titel: Der hinkende Rhythmus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gaye Boralıoğlu
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fuhr nicht weiter. Er konnte nicht. Er stieg aus, blieb bei ihr stehen. Güldane schlug die Augen auf. Schaute Halil an. Und ihm wurde ein weiteres Mal klar, dass diese Augen nie, nie, niemals eine Einbildung sein können, dass nichts in der Welt so wahr, so lebendig sein kann wie sie.
    Sie verständigten sich wortlos. Halil fuhr den Wagen an den Straßenrand. Sie liefen zusammen auf sein Haus zu, Halil öffnete die Tür. Erst ging Güldane hinein, dann er. Die Tür ging zu.
    Doch da war noch jemand und beobachtete sie. Yunus, der seine Schwester zu früher Morgenstunde mit einem seltsamen Gesichtsausdruck aus dem Haus gehen sah, war ihr gefolgt. Während sie auf dem Müllberg gesessen hatte, hatte er sich hinter einer verfallenen Mauer versteckt und war ihr dann auf den Straßen, sich mal hinter anderen Menschen und mal hinter Bäumen duckend, nachgelaufen. Eigentlich wusste er, wohin Güldane ging, wollte aber sicher sein.
    Nun wurde die Tür vor seiner Nase zugeschlagen. Yunus war ausgesperrt.

    »Ich hab gedacht, du bist nur eine Einbildung«, sagte Halil. »Ich hätte dich fast überfahren.«
    Sie saßen sich im kleinen Wohnzimmer gegenüber. Sie hatten sich beide nicht zurückgelehnt, saßen auf heißen Kohlen. Halil konnte Güldane nicht ansehen, er spürte, er wäre geblendet, wenn er nur einmal hinschauen würde. Güldane hatte, ganz im Gegenteil, ihren Blick mit voller Intensität auf Halil gerichtet. Sie dachte, er würde verschwinden, in einem großen Nichts verlorengehen, wenn sie nur ein einziges Mal wegschauen würde.
    So war es, als würden sie nicht in Halils Wohnung in Sesseln sitzen, sondern in der Leere des Weltalls dahingleiten. Sie waren wie gefangen in einem Moment ohne Zeit und Raum. Sie suchten nach etwas, woran sie sich hätten festhalten können, fanden aber nichts. Sie hingen in der Ungewissheit der Leere. Weder waren sie bereit, sich dieser Ungewissheit hinzugeben, noch dazu, aus ihr hinauszutreten. In einem Kosmos ohne Erdanziehung waren sie aneinander hängengeblieben.
    Güldane gab Halil keine Antwort.
    »Wir«, sagte sie, »gehen.«
    In Halils Herz stach ein Messer, im Feuer zur Heißglut gebracht. Von dieser Wunde breitete sich eine Unruhe in Wellen über seinen ganzen Körper aus; wie die Wellen von einem Stein, der auf eine glatte Wasseroberfläche trifft. Ein Wort verließ zwar seinen Mund, löste sich aber auf, bevor es sein eigenes Ohr erreichte:
    »Wohin?«
    »An einen guten Ort.«
    Halil schluckte. Er wollte nicht das Zittern seiner Stimme zu erkennen geben. Er betete dafür, die Flammen in seinem Gesicht würden unsichtbar bleiben. Dumm war nur, dass ihn Güldane mit ihrer ganzen Aufmerksamkeit anschaute und jedes Detail in ihr Gedächtnis eingravierte. Halil starrte nach wie vor die Ecke des Teppichs mit dem dunkelblauen Muster an, das er inzwischen auswendig gelernt hatte, nahm aber jede Regung Güldanes wahr.
    »Was für ein Ort?«, fragte er.
    »Ein Ort halt«, sagte Güldane. »Ein guter Ort … ein schönes Haus.«
    »Und wenn du wir sagst …?« Mit dieser Frage schaute Halil zum ersten Mal in Güldanes Gesicht. Er war so neugierig auf ihre Antwort, dass er sich nicht beherrschen konnte und sich unbedacht von der Ecke des Teppichs mit dem dunkelblauen Muster löste.
    »Wir halt«, sagte Güldane mit dem gleichen Gesichtsausdruck, »mit Yunus … mein Bruder.«
    Da spürte Halil einen Hauch von Erleichterung. Wenigstens sagte sie, sie würde mit ihrem Bruder gehen. Wenigstens gab es nicht einen anderen. Er machte den Mund auf, als ob er etwas sagen wollte, aber kein einziges der tausend Wörter, die gleichzeitig auf seine Zunge stürmten, schaffte es, durch das Sieb seines Geistes durchzudringen. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als den Mund wieder zu schließen, wie ein Fisch ohne Wasser. Geh nicht fort, hätte er vielleicht das sagen sollen? Oder, komm, zieh bei mir ein, werde meine Liebste? Oder, dann geh doch zur Hölle? Oder, geh und erlöse auch mich von diesem Feuer? Oder, ich werde noch wahnsinnig deinetwegen, geh so schnell du kannst, geh? Oder, du bist der einzige Sinn meines menschenleeren Lebens? Was hätte er sagen sollen?
    Weil er nichts sagte, stand Güldane auf. Sie wollte jetzt gehen, sie wollte wirklich gehen! Und Halil saß immer noch regungslos da. Hier, alles geschah vor seinen Augen. Und ihm blieb nichts anderes übrig, als Zuschauer zu sein.
    Güldane wandte sich zur Tür. Jetzt spürte sie, dass sie am Ende ihrer Kräfte angelangt war.

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