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Der hinkende Rhythmus

Der hinkende Rhythmus

Titel: Der hinkende Rhythmus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gaye Boralıoğlu
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würde sie sich genieren – einen Heiratsantrag gemacht. Eigentlich sei ihr Schmerz natürlich noch frisch, den Vater ihrer Kinder habe sie noch nicht ganz vergessen, aber man dürfe ja auch nicht mit den Toten sterben. Und eine solche Gelegenheit dürfe man sich auch nicht entgehen lassen. Es sei notwendig, dass sie heirateten, denn man würde bei einem Politiker eine verbotene Beziehung nicht gerne sehen.
    Güldane und Yunus betrachteten ihre Mutter, die all dies erzählte, und bemerkten die Veränderungen an ihr. Zum einen war Safiye noch fülliger geworden. Dann waren ihre Augenbrauen im Vergleich zu früher viel dünner. Sie hatte ein veilchenblaues, ziemlich schlichtes Kleid an, und das war das Ungewöhnlichste. An ihren rundlichen Beinen trug sie eine glänzende Feinstrumpfhose von offensichtlich ziemlich hoher Qualität. Und ihre Absatzschuhe waren modisch, auch wenn ihre Füße mit Mühe hineingezwängt worden waren.
    Safiye erahnte die Fragen, die Güldane und Yunus beschäftigten, aber statt auf sie zu antworten, tauchte sie ihre Hand zwischen ihre Brüste, zog aus ihrem BH ein Bündel Geld hervor und drückte es Güldane in die Hand. Sie hätte ja gern mehr gegeben, erfuhren die Kinder, aber fürs Erste konnte sie nur so viel mitbringen. Doch sie hatte den Eindruck, dass beide recht gesund waren. Mit einer aufrichtigen Neugier, fast so, als wäre sie ein fremder Gast, stellte sie die Frage, die ihr spontan in den Sinn kam:
    »Sagt mal, wovon lebt ihr?«
    Güldane und Yunus schauten einander an.
    »Yunus spielt Tamburin«, sagte Güldane.
    »Güldane tanzt«, sagte Yunus.
    Diese Antworten stellten Safiye in höchstem Maße zufrieden. Sie strich ihren Kindern über den Rücken und erzählte ausführlich, wie stolz sie auf sie war. Ach, wie sehr wünschte sie sich, die beiden mit ihrem Neupapa bekannt zu machen! Aber der arme Mann war sehr beschäftigt, er hatte nicht einmal Zeit, sich am Kopf zu kratzen. Doch Safiye erzählte bei jeder Gelegenheit von Güldane und Yunus, und so hatte Cevdet der Zweite die beiden bereits so gut kennengelernt, als wären sie seine eigenen Kinder. Ganz bald würden sie eine sehr glückliche Familie werden. Sobald diese Sache mit der Heirat erledigt sei, würden sie wieder alle zusammenleben.
    Beim Abschied küsste Safiye ihre Kinder mit viel mehr Lärm und Speichel ab als bei ihrer Ankunft. Sie sagten kein Wort. Sie wussten nur zu gut, dass es nichts nützen würde. Safiye versprach zum Abschluss, ihnen bald den Termin der Trauung mitzuteilen, bevor sie die Tür hinter sich zuzog.

    In jener Nacht sammelten Güldanes Träume alle verfügbaren Bilder auf und segelten mit ihr zurück in die Vergangenheit. Aber nicht so weit, dass sie etwa bei ihrer Kindheit gelandet wäre, bei Wiesen, Bienen und Grashüpfern, sondern an jenem trüben Tag, an dem ihr Halil zum ersten Mal begegnete. Tücher flogen durch die Lüfte, Staub wirbelte empor und Halils Jeep schlingerte in den Bauchnabel der Baugrube hinunter. Die Sonne wurde an- und dann wieder ausgeknipst, der Mond glänzte und verdüsterte sich. Im Krankenhaus warteten Engel an Halils Bett. Sie stand zwischen ihren Flügeln und verfolgte Halils Atemzüge. Dann wurde es finster. In dieser Finsternis flogen tausend Glühwürmchen auf Güldane nieder. Zwei von ihnen waren die Augen Halils. Güldane ergriff sie und hielt sie fest in ihrer Hand. Sie küsste sie, roch an ihnen und drückte sie an ihre Brust. Es prickelte in ihr und ihre Beine wurden unruhig. Sie bekam Durst, trank Wasser, doch sie fieberte trotzdem weiter. Halil schlief in seinem Bett. Er war halbnackt. Güldane zog sich aus und legte sich zu ihm. Sie schloss ihre Augen und schlief auf der Stelle ein. Als sie wieder erwachte, lag Halil nicht mehr neben ihr. Nackt wie sie war, und glühend, rannte sie auf die Straße. Sie lief und lief so lange, dass sie zu fliegen begann … und dann, irgendwann und ganz plötzlich, wurde sie zum Wind.
    Als sie aufwachte, war Güldane von einer katastrophalen Sehnsucht erfüllt, so, als hätte sie einen Herzensgeliebten, den sie seit hundert Jahren liebte, der schöner war als das Schönste in der Welt, süßer als das Süßeste, eine seeehr lange Ewigkeit nicht gesehen. Ganz benommen stand sie auf und zog sich an.
    Yunus, der spät ins Bett gegangen und noch nicht ausgeschlafen war, sah Güldane zwischen halb geschlossenen Augen zu und erklärte sich ihren Zustand mit Schlaftrunkenheit. Er war müde und schlief gleich wieder ein.
    Noch

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