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Der hinkende Rhythmus

Der hinkende Rhythmus

Titel: Der hinkende Rhythmus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gaye Boralıoğlu
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ganzen Reiz im Auto.
    Halil verlor die Nerven. Er begann zu lachen und lachte stoßweise immer weiter.
    »Was lachst du?«, fragte Güldane.
    Halil fuhr an den Straßenrand und hielt an. Er stützte den Arm gaunerhaft auf die Rücklehne.
    »Was willst du von mir?«, sagte er.
    Güldane lächelte: »Dass du mich nach Sarıyer bringst!«
    Da war Halil mit seiner Weisheit am Ende. Sein Gehirn kam ihm völlig leer vor. Irgendwie schaffte es dieses Mädchen, ihn in eine hölzerne Marionette zu verwandeln, deren Arme und Beine dämlich zappeln. Jetzt wurde wieder an den Fäden gezogen und Halil drehte sich fügsam nach vorn, der Wagen fuhr weiter nach Sarıyer. Das zufriedene Lächeln auf den Lippen seiner Meisterin konnte Halil erahnen, auch wenn er es nicht sah.
    Die ganze Strecke lang brodelte es in ihm; Wellen von Wut, Neugier, Verzweiflung, Aufregung, Reue und Gleichgültigkeit schlugen, schäumend und einander zerdrückend, gegen Halils Ufer.
    Als sie am Fatih-Wald vorbeifuhren, sagte Güldane:
    »Halt hier an.«
    »Aber … noch …«, wollte Halil widersprechen.
    »Halt an«, sagte Güldane entschieden, »hier.«
    Halil stoppte den Wagen.
    Güldane stieg aus. »Komm«, sagte sie beim Aussteigen.
    Halil war verwirrt, sie hielt seine Fäden in ihrer Hand, er hatte keine Wahl. Er stieg aus. Güldane hielt ihm die Hand hin. Halils Herz begann wieder wild zu hämmern. Er ergriff die Hand des Mädchens. Sie verließen die Straße und liefen in den Wald hinein.
    Niemand sprach ein Wort. Außer ihren Schritten über den feuchten, abgefallenen Blättern und dem Wind, der zwischen den Bäumen umherzog, war kein Laut zu hören. Güldanes Hand lag in der Halils; Halil hatte ihr seine Seele anvertraut.
    Sie kamen nicht sehr weit. Bald vermischten sich ihre Atemzüge miteinander. Allerlei Blätter wurden zu ihrem Bett, der Duft des Waldes wurde zu ihrer Decke. Die Bäume senkten ihre Äste nieder, wurden zu ihrem Haus. Ihren langen, sehr langen Liebesakt krönten farbenfrohe Blumen.
    Am Ende legten sie sich erschöpft nebeneinander. Ein Lichtstreifen stahl sich durch dunkle graue Wolken, durch riesenhafte Bäume und fiel auf Güldanes Gesicht. Halil schwebte vor Glück.
    Wie lange sie dort so lagen, kann man nicht wissen. Als Halil später daran dachte, konnte er sich nicht erinnern, wie sie zurückkehrten und wo er Güldane rausgelassen hatte. Von dem Augenblick des Parkens am Waldrand bis zu jenem Lichtstrahl auf Güldanes Gesicht war die Zeit Minute für Minute, in allen Einzelheiten, in seinem Gedächtnis abgespeichert, doch die Zeitspanne, die darauf folgte und mit seinem Aufwachen am nächsten Morgen in seinem Bett endete, bestand aus splitterhaften Bildern. In der Hoffnung, eine Spur zu finden, die diese Bilder zusammenkleben könnte, inspizierte er jeden Zentimeter seiner Kleidung, die er am Vorabend abgelegt hatte, bis ins letzte Detail, fand aber weder ein Blatt noch ein vertrocknetes Klümpchen Erde, nichts!
    An jenem Morgen war Halil so unglücklich und voller Sorgen wie noch nie in seinem Leben. Falls es wirklich geschehen war, was er sich vorstellte, hatte er eine unverzeihliche Sünde begangen. Falls es nicht geschehen war, befand er sich in den Krallen einer unheilbaren Krankheit. So oder so, nunmehr war er eine verlorene Seele.

Die Plage der Sehnsucht
    In jenem Frühjahr fielen die ersten Lichter der Sonne auf das Haus der Geschwister. Sie drangen sogar durch den vergnügt paffenden Schornstein hinein und saugten den winterlich feuchten Geruch auf.
    Güldane und Yunus waren schon längst wach, aber zu faul, das Bett zu verlassen. Irgendwann war Yunus aufgestanden und hatte den Ofen angezündet, war aber dann gleich wieder unter die Decke gekrochen.
    Güldane drehte sich flink zur Seite und zog aus der hintersten Ecke der unteren Schublade der Kommode eine alte Blechdose heraus. Ein Bündel Geld befand sich darin. Sie rührte das Kleingeld nicht an und begann, die Scheine zu zählen.
    »Fünfzig … hundert … hundertfünfzig … zweihundert … zweihundertfünfzig …«
    Yunus hatte vor lauter Bewunderung die Augen weit aufgerissen und schaute seine Schwester an, die dieses Vermögen zwischen den Fingern hielt.
    »Fünfhundert … fünfhundertfünfzig … sechshundert … zwanzig … dreißig … fünfunddreißig …«
    Danach nahm sie das Kleingeld. »Sechsunddreißig, sieben, acht, vierzig, zweiundvierzig … fünfzig … Genau sechshundertzweiundvierzig fünfzig …«
    »Das ist ja ganz viel geworden!«,

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