Der Hinterhalt
Hälfte ausgetrunken hatte. »Ich habe dem nichts hinzuzufügen«, erklärte er und stellte sein Bier auf den Tisch.
»Soll das heißen, dass alles, was ich gerade gesagt habe, genau stimmt?«, fragte ich.
»Soweit ich weiß, ja«, erwiderte Dan. Ich spürte, dass er mir irgendetwas verschwieg.
»Ich habe auch gehört, dass früher fünf Gruppen gegeneinander gekämpft haben und dass davon heute nur noch zwei Gruppen übrig sind«, sagte ich.
Dan wirkte unruhig. »Ich denke, in jeder der Geschichten steckt ein Körnchen Wahrheit.«
Er hielt mich zum Narren. Das hatte ich von Dan nicht erwartet. »Wie ist das möglich, Dan? Wie ist es möglich, dass wir begonnen haben, gegen sie zu kämpfen, weil wir Sklaven waren, und dass ursprünglich fünf Gruppen gegeneinander gekämpft haben? Wie kann in beiden Geschichten ein Körnchen Wahrheit stecken? Kennen Sie die Wahrheit überhaupt, Dan? Denn wenn Sie sie nicht kennen, dann sagen Sie mir das einfach.« Ich wartete auf seine Antwort. Er saß eine Weile schweigend da. Dann stand er auf.
»Warten Sie hier«, forderte er mich auf. Er entfernte sich vom Tisch und ging in sein Arbeitszimmer, während ich auf meinem Stuhl sitzen blieb. Ich hörte, wie er in seinem Büroschrank wühlte und Schachteln vom obersten Einlegeboden herunterhob. Nach etwa fünf Minuten kam er mit einem Foto in der Hand zurück.
»Sehen Sie das?«, fragte er und reichte mir die Aufnahme. Es handelte sich um ein altes Foto von Dan als jungem Mann, auf dem er einem großen, dunkelhaarigen Mann mit Schnurrbart die Hand schüttelte. Dan war auf dem Foto höchstens dreißig Jahre alt. Der Mann mit dem Schnurrbart muss zwischen fünfzig und sechzig gewesen sein. »Wissen Sie, wer das ist?«, fragte mich Dan. Ich schüttelte den Kopf. Der Mann war mir unbekannt. »Das ist General Corbin«, erklärte Dan, »General William Corbin. Selbstverständlich war ›General‹ kein offizieller Titel im Krieg, aber jeder nannte ihn ›General Corbin‹ oder einfach nur ›General‹. Zu meiner Zeit war er der Leiter der Operationen in Nordamerika. Der Mann war ein Genie. Er war für den Verlauf des Krieges von entscheidender Bedeutung.« Ich warf nochmals einen Blick auf das Foto. Es war schwer, sich vorzustellen, dass der Mann auf dem Foto für all das verantwortlich war. »Und Sie haben noch nie was von ihm gehört?«
»Nein«, erwiderte ich.
Dan schüttelte den Kopf und lachte. »Was wird euch jungen Leuten heutzutage eigentlich beigebracht? Egal, jedenfalls gibt es einen Grund, warum ich Ihnen das erzähle. Nach meinem zwanzigsten Mord – und zwanzig war damals wohlgemerkt eine Menge – wurde ich zu einem Abendessen mit dem General eingeladen.« Dan hatte mir gesagt, er habe den Überblick verloren, wie viele Menschen er getötet hatte. Offenbar wusste er mehr, als er zugab. Er deutete auf das Foto auf dem Tisch. »Die Aufnahme wurde bei diesem Abendessen gemacht.« Ich spürte, wie ich nüchtern wurde, während Dan sprach. »Ich war damals ein übermütiger Bursche, so ähnlich wie Sie jetzt.« Es war klar, dass Dan das als Kompliment verstand. »Bei diesem Abendessen stellte ich dem General dieselbe Frage, die Sie mir gerade gestellt haben. Welche dieser Geschichten ist wahr? Und wissen Sie, was er mir gesagt hat?« Ich schüttelte den Kopf. »Er hat mir gesagt, dass er es auch nicht weiß. Er hat mir gesagt, dass er es nicht wissen will. Es sei für ihn nicht wichtig, meinte er. Wichtig sei nur, dass sich jeder Soldat die Geschichte aussucht, die ihn am meisten inspiriert, und diese Geschichte glaubt.«
Ich hasste diese Antwort. »Und Sie gaben sich damit zufrieden?«, fragte ich.
»Nein, natürlich nicht«, erwiderte Dan und schüttelte den Kopf. »Aber der General hat mir noch Folgendes gesagt.« Dans Stimme wurde plötzlich leiser. »Er hat mir gesagt, dass wir in den vergangenen zwei Jahrhunderten dreimal nach langen, schleppenden Verhandlungen eine Vereinbarung mit der Gegenseite trafen.« Dan hielt mir zur Betonung drei Finger hin. »Alles war ausgearbeitet und vereinbart. Der Krieg war offiziell vorbei.«
Diese Geschichte hatte ich noch nie gehört. »Was ist passiert?«, fragte ich.
»Sie brachen jedes Mal ihr Wort.« Dans Tonfall war jetzt todernst, als hätte er den ganzen Abend keinen Tropfen getrunken. »Sie brachen jedes Mal ihr Versprechen. Sie versuchten jedes Mal, aus unserer Verhandlungsbereitschaft einen Nutzen zu ziehen. Jedes Mal kamen gute Menschen ums Leben. Ganz egal, wie viel
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