Der Hintermann
legte es gehorsam vor Coyles Füßen ab.
Das fünf Zentimeter dicke Aststück war ungefähr dreißig Zentimeter lang. Coyle fasste es an beiden Enden und drehte dann diese mit einem kräftigen Ruck gegeneinander. Es ließ sich leicht öffnen, ein Geheimfach wurde sichtbar, in dem ein schmaler Papierstreifen steckte. Coyle zog ihn heraus, setzte den Ast wieder zusammen und gab ihn Lucy, die ihn an seinen alten Platz zurücktragen würde. Dort würde Coyles Führungsoffizier ihn vermutlich noch diese Nacht abholen. Er war nicht der cleverste Agent, den Coyle jemals kennengelernt hatte, aber er war auf schwerfällige Weise gründlich und ließ Coyle nie auf sein Geld warten. Das war keine große Überraschung. Der Geheimdienst, dem er angehörte, hatte mit vielen inneren und äußeren Bedrohungen zu kämpfen, aber Geldmangel zählte sicher nicht dazu.
Coyle las die Mitteilung im Licht seines Handybildschirms und ließ den Papierstreifen dann in einen verschließbaren Plastikbeutel von Safeway fallen. In den gleichen Beutel kam fünf Minuten später Lucys abendliches Häufchen, das er einsammelte, um es in dem dafür vorgesehenen Behälter am Parkausgang zu entsorgen. Nicht mehr lange, sagte er sich auf dem Rückweg. Noch ein paar Geheimnisse, noch ein paar Spaziergänge im Park mit Lucy an seiner Seite. Er fragte sich, ob er wirklich den Nerv haben würde, The Palisades zu verlassen. Dann dachte er an Norahs langweilige Brille und die protzige Villa seines Nachbarn und das Buch über Winston Churchill, das er sich heute im Auto im Stau stehend angehört hatte. Coyle hatte Churchills Entschlossenheit stets bewundert. Wenn es darauf ankam, würde auch er entschlossen handeln.
Jenseits des Flusses, in Langley, ging die Party noch einige Tage lang weiter. Sie feierten das Ergebnis ihrer harten Arbeit. Sie feierten die Überlegenheit ihrer Technologie. Sie feierten die Tatsache, dass sie’s endlich geschafft hatten, den Feind zu überlisten. Vor allem feierten sie jedoch Adrian Carter. Dieses Unternehmen, darüber waren sich alle einig, zählte zu Carters größten Erfolgen. Der Makel war getilgt, die Sünden waren vergessen. Dass Raschid al-Husseini und Malik al-Zubair sich weiter auf freiem Fuß befanden, war im Augenblick unwichtig. Nun waren sie Terroristen ohne ein Netzwerk, und das war allein Carters Verdienst.
Raschidistan blieb weiter in Betrieb, aber die Zahl der dort Beschäftigten verringerte sich in einem Anflug hastiger Umschichtungen. Was als streng geheime Nachrichtenbeschaffung begonnen hatte, war jetzt zu einem Fall für Ermittler und Staatsanwälte geworden. Das Team verfolgte nicht mehr die Geldströme eines Terrornetzwerks. Stattdessen verstrickte es sich in hitzige Debatten mit Anwälten aus dem Justizministerium darüber, welche Beweise zulässig waren und welche niemals das Tageslicht erblicken sollten. Keiner der Anwälte machte sich die Mühe, Gabriel Allon, den legendären, aber eigensinnigen Sohn des israelischen Geheimdiensts, zu Rate zu ziehen, weil keiner wusste, dass er im Operationszentrum anwesend war.
Weil das Unternehmen jetzt heruntergefahren wurde, verwandte Gabriel den größten Teil seiner Zeit und Energie darauf, von ihm Abschied zu nehmen. Auf Anweisung vom King Saul Boulevard führte er eine Serie von Abschlussbesprechungen durch und handelte ein Verfahren aus, das dem Dienst die ständige Teilhabe an weiteren geheimdienstlichen Erkenntnissen sichern sollte – obwohl er genau wusste, dass die Amerikaner sich niemals daran halten würden. Die Übereinkunft wurde im Dienstzimmer des Direktors mit großem Tamtam vor einigen wenigen Beteiligten unterzeichnet, wonach Gabriel zur Personalabteilung weiterging, um seinen grünen Dienstausweis abzugeben. Was fünf Minuten hätte dauern dürfen, dauerte über eine Stunde, weil er zahllose Verpflichtungen unterschreiben musste, die er nicht vorhatte auch nur ansatzweise einzuhalten. Als der Tintendurst der Personalabteilung endlich befriedigt war, begleitete ein uniformierter Wachmann Gabriel in die Eingangshalle hinunter. Dort machte er ein paar Minuten halt, um zuzusehen, wie ein neuer Stern in die Gedenkmauer der CIA eingemeißelt wurde, bevor er in das erste heftige Gewitter des allzu kurzen Washingtoner Frühlings hinaustrat.
Bis Gabriel Georgetown erreichte, hatte der Regen aufgehört, und die Sonne strahlte wieder. Er traf sich mit Chiara zum Lunch in einem Restaurant mit malerischem Innenhof in der Nähe der American University
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