Der Hintermann
Vollkorntoast mit Butter und Erdbeermarmelade in je einem separaten Schälchen. Die Zeitungen hatten neben ihrem in Leder gebundenen Terminplaner auf der rechten Schreibtischhälfte zu liegen: obenauf das Wall Street Journal , dann die International Herald Tribune , das Financial Journal und Le Monde . Der Fernseher hatte auf BBC eingestellt zu sein – mit ausgeschaltetem Ton und der Fernbedienung in bequemer Reichweite.
Inzwischen war es halb sieben geworden. Nadia versuchte, ihre stärker pochenden Kopfschmerzen zu ignorieren, schloss die Augen und versank in einen unruhigen Halbschlaf, aus dem sie eine halbe Stunde später durch das leise Klopfen ihrer langjährigen Haushälterin Esmeralda geweckt wurde. Wie jeden Morgen blieb sie so lange im Bett, bis Esmeralda das Zimmer wieder verlassen hatte. Dann schlüpfte sie unter den wachsamen Blicken ihres Vaters in einen Morgenmantel und ging barfuß ins Büro hinüber.
Dort empfing sie der Duft von frischem Kaffee. Sie goss sich eine Tasse ein, gab Milch und drei Löffel Zucker dazu und setzte sich an ihren Schreibtisch. Das Fernsehen zeigte Bilder von einem Massaker in Islamabad, wo durch eine weitere riesige al-Qaida-Autobombe über hundert Menschen – fast ausschließlich Muslime – umgekommen waren. Nadia ließ den Ton ausgeschaltet und schlug ihren Terminplaner auf. Er enthielt überraschend wenige Eintragungen. Nach drei Stunden zur freien Verfügung würde sie zum Flughafen fahren und nach Zürich fliegen. Dort würden ihre engsten Mitarbeiter und sie in einem Konferenzraum im Hotel Dolder Grand mit dem Management einer größtenteils der AAB Holding gehörenden Firma für optische Geräte mit Sitz in Zug zusammentreffen. Unmittelbar danach würde eine weitere Besprechung – diesmal ohne ihre Mitarbeiter – stattfinden. Als Betreff war ›privat‹ eingetragen, was stets bedeutete, dass es um Nadias persönliche Finanzen ging.
Sie klappte ihren Terminplaner zu und verbrachte die folgende Stunde wie immer damit, bei Kaffee und Toast die Zeitungen zu lesen. Kurz nach acht Uhr meldete sie sich auf ihrem Computer an, um sich über die Kursentwicklung in Asien zu informieren, und surfte anschließend einige Minuten zwischen mehreren Nachrichtensendern. Zuletzt blieb sie beim arabischen Sender al-Dschasira, der nach Reportagen über das Massaker in Islamabad nun einen Bericht über einen israelischen Luftangriff im Gazastreifen brachte, bei dem zwei Top-Terrorplaner der Hamas umgekommen waren. Der türkische Ministerpräsident, der den Angriff als »Verbrechen gegen die Menschlichkeit« be„zeichnete, rief die Vereinten Nationen zu Wirtschaftssanktionen gegen Israel auf – ein Aufruf, der von einem wichtigen saudischen Geistlichen umgehend zurückgewiesen wurde. »Die Zeit für Diplomatie ist vorbei«, erklärte er dem beflissenen Fernsehreporter. »Jetzt müssen alle Muslime sich dem bewaffneten Kampf gegen die zionistischen Eindringlinge anschließen. Und Allah möge jene strafen, die es wagen, mit den Feinden des Islams gemeinsame Sache zu machen.«
Nadia schaltete den Fernseher aus, ging ins Schlafzimmer zurück und tauschte ihren Morgenmantel gegen einen Jogginganzug ein. Sie hatte sich nie für Sport begeistern können, und seit sie dreißig war, hatte ihr Elan weiter nachgelassen. Dennoch erhöhte sie jeden Morgen pflichtbewusst ihre Pulszahl und machte Dehnübungen, so wie es von einer modernen Unternehmerin, die überwiegend im Westen lebte, erwartet wurde. Weil sie noch immer leichte Kopfschmerzen hatte, verkürzte sie heute ihre ohnehin schon kurze Trainingseinheit. Nach einem gemächlichen Trab auf dem Laufband machte sie einige Minuten lang Dehnübungen auf einer Yogamatte. Danach lag sie mit fest geschlossenen Beinen und ausgebreiteten Armen auf dem Rücken. Wie immer erzeugte diese Haltung eine Illusion der Schwerelosigkeit. An diesem Morgen erschien zusätzlich eine schockierend deutliche Vision ihrer eigenen Zukunft. Nadia blieb längere Zeit unbeweglich liegen und überlegte, ob sie den Trip nach Zürich absagen sollte. Ein einziger Anruf würde genügen, sagte sie sich. Ein einziger Anruf würde die Last von ihren Schultern nehmen. Aber sie konnte sich nicht dazu durchringen. Ihrer Überzeugung nach war sie aus einem bestimmten Grund zu dieser Zeit und an diesem Ort auf der Erde. Das galt sicher auch für den Mann, der ihren Vater ermordet hatte, und sie wollte ihn nicht enttäuschen.
Nadia stand auf, kämpfte gegen leichten Schwindel an
Weitere Kostenlose Bücher