Der Hintermann
Füßen war noch warm. Der Talib ging einige Schritte voraus. Seine Thobe leuchtete im Mondschein. Er rezitierte halblaut eine Sure, aber mit Nadia sprach er kein Wort.
Sie kamen zu einem Zelt ohne Stromerzeuger oder Satellitenschüssel. Vor dem Eingang kauerten zwei junge Männer, deren bärtige Gesichter ein kleines Feuer erhellte. Der Talib sprach ihnen gegenüber den Friedensgruß, dann öffnete er die Zeltklappe und bedeutete Nadia, ins Innere zu treten. Scheich Marwan bin Taijib, Dekan der Theologischen Fakultät der Universität Mekka, saß mit untergeschlagenen Beinen auf einem schlichten Orientteppich und las im Licht einer Gaslampe den Koran. Er klappte das Buch zu, legte es weg und betrachtete dabei Nadia al-Bakari sekundenlang durch seine Nickelbrille, bevor er sie einlud, Platz zu nehmen. Sie ließ sich langsam auf den Teppich sinken, wobei sie darauf achtete, kein Fleisch zu zeigen, und saß schließlich in züchtiger Haltung neben dem Koran.
»Der Schleier steht Ihnen«, sagte Bin Taijib bewundernd, »aber Sie dürfen ihn abnehmen, wenn Sie möchten.«
»Ich trage ihn lieber weiter.«
»Ich wusste gar nicht, dass Sie so fromm sind. Sie stehen in dem Ruf, eine befreite Frau zu sein.«
Das meinte der Scheich nicht als Kompliment. Er wollte sie auf die Probe stellen, aber damit hatte sie gerechnet. Das hatte auch Gabriel getan. Verbergen Sie nur uns ,hatte er gesagt. Halten Sie sich möglichst an die Wahrheit. Lügen Sie nur, wenn’s nicht anders geht. So arbeitete der Dienst. So arbeiteten professionelle Spione.
»Wovon befreit?«, fragte Nadia, um ihn zu provozieren.
»Von der Scharia «, sagte der Scheich. »Wie ich höre, tragen Sie im Westen nie den Schleier.«
»Er ist unpraktisch.«
»Ich weiß aber, dass immer mehr unserer Frauen es vorziehen, auf Reisen verschleiert zu bleiben. Wie ich höre, lassen viele saudische Frauen ihr Gesicht bedeckt, wenn sie bei Harrods Tee trinken.«
»Diese Frauen führen keine großen Unternehmen. Und die meisten von ihnen trinken mehr als nur Tee, wenn sie im Westen sind.«
»Auch Sie, wird mir zugetragen.«
Halten Sie sich möglichst an die Wahrheit …
»Ich gestehe, dass ich gern Wein trinke.«
»Der ist haram «, sagte er scheltend.
»Daran ist mein Vater schuld. Er hat mich trinken lassen, wenn ich im Westen war.«
»Er war nachsichtig mit Ihnen?«
»Nein«, sagte sie kopfschüttelnd, »er war nicht nachsichtig. Er hat mich schrecklich verzogen. Aber ich verdanke ihm auch meinen starken Glauben.«
»Ihren Glauben woran?«
»An Allah und seinen Propheten Muhammad, Friede sei mit ihm.«
»Soweit ich mich erinnere, hat Ihr Vater seine Abstammung auf Wahhab selbst zurückgeführt.«
»Im Gegensatz zur Familie al-Ascheich sind wir keine direkten Abkömmlinge. Wir stammen von einer Nebenlinie ab.«
»Nebenlinie hin oder her, Wahhabs Blut fließt in Ihren Adern.«
»So heißt es.«
»Aber Sie haben sich dafür entschieden, nicht zu heiraten und keine Kinder zu bekommen. Stecken auch dahinter praktische Erwägungen?«
Nadia zögerte.
Lügen Sie nur, wenn’s nicht anders geht …
»Richtig erwachsen geworden bin ich erst nach der Ermordung meines Vaters«, sagte sie. »Meine Trauer hat es mir unmöglich gemacht, an Heirat auch nur zu denken.«
»Und jetzt hat Ihre Trauer Sie zu uns geführt.«
»Nicht Trauer«, sagte Nadia. »Zorn.«
»Hier im Nedschd ist’s manchmal schwierig, beides voneinander zu unterscheiden.« Der Scheich bedachte sie mit einem mitfühlenden Lächeln, seinem ersten Lächeln. »Aber Sie sollten wissen, dass Sie nicht allein sind. Es gibt Hunderte von Saudis wie Sie – gute Muslime, deren Angehörige von den Amerikanern erschossen wurden oder die bis heute in den Käfigen von Guantánamo Bay leiden. Und viele sind rachedurstig zu den Brüdern gekommen.«
»Aber keiner von ihnen musste mit ansehen, wie sein Vater eiskalt niedergeschossen wurde.«
»Glauben Sie, dass Sie deshalb etwas Besonderes sind?«
»Nein«, sagte Nadia, »ich glaube, dass mein Geld mich zu etwas Besonderem macht.«
»Zu etwas sehr Besonderem«, sagte der Scheich. »Es ist fünf Jahre her, dass Ihr Vater den Märtyrertod gestorben ist, nicht wahr?«
Nadia nickte.
»Das ist eine lange Zeit, Frau al-Bakari.«
»Im Nedschd ist es nur ein Augenblick.«
»Wir hätten Sie früher erwartet. Wir haben sogar unseren Bruder Samir zu Ihnen geschickt. Aber Sie haben seine Bitten zurückgewiesen.«
»Ich konnte Ihnen damals unmöglich
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