Der Hirte (German Edition)
Flocken taumelten. Das Licht reichte noch für eine, höchstens zwei Stunden. Sobald die Nacht anbrach, würde ihr Schicksal besiegelt sein. Hier draußen auf der Lichtung wehte ein schwacher Wind, der keinen Geruch mit sich trug außer dem von Schnee. Rainald hörte das Knirschen seiner Schritte und das Knacken der Zweige, die unter der Schneedecke lagen. Johannes trottete hinter ihm her. Schwester Venia machte den Abschluss. Rainalds Blicke wanderten über die Lichtung, blieben an jedem Schatten, an jeder Bodenunebenheit, an jeder Verfärbung hängen und versuchten sie zu durchbohren. Schatten konnten sich in Wölfe verwandeln, das wusste er nun.
Sie passierten einen knorrigen, halbhohen Baum mit rissiger Borke. Rainald blieb stehen und ermaß die Umgebung. Sie hatten vielleicht ein Drittel der Strecke über die Lichtung zurückgelegt. Nichts rührte sich außer dem leisen Schwanken der Zweige. Der Wind blies nicht stark genug, um den feuchten Schnee aufzuwirbeln. Blanka wand sich in seinem Griff, um bequemer zu sitzen und selbst herumspähen zu können. Der Baum sah aus wie ein alter, bereits halb gefallener Obstbaum, der eine Lücke im Fels gefunden hatte, durch die er seine Wurzeln bohren konnte. Eine ganze Strecke weit von ihm entfernt, fast schon am jenseitigen Waldrand, stand ein zweiter. Sie hatten nicht ausgereicht, um den früheren Bewohnern ein Überleben zu ermöglichen. Mit dem Schnee in den Astgabeln und ihren bizarren Gestalten sahen beide aus, als seien auch seine Tage bereits gezählt. Schwester Venia schloss zu ihm auf.
„Die Stille ist schlimmer als das Geheul“, sagte sie.
Sie war blass, doch sie schien besser bei Kräften zu sein als Johannes, der keuchte. Rainald wurde bewusst, dass er so schnell über die freie Fläche geeilt war, dass der Junge fast hatte laufen müssen, um Schritt zu halten. Er knurrte etwas. Er deutete auf den zweiten einzeln stehenden Baum. „Das ist unser nächstes Ziel“, sagte er.
Sie nickte. Ihrem Blick konnte er entnehmen, dass sie wusste, warum er die Strecke so legte. Wölfe konnten nicht klettern. Bei einem Angriff mochte ein erreichbarer Baum zunächst die Rettung sein.
Sie waren auf halbem Weg zwischen beiden Bäumen, als Blanka plötzlich auffuhr. Ihr Gesicht verzerrte sich. Sie deutete über Rainalds Schulter nach hinten.
„Mama!“, schrie sie.
Rainald fuhr herum. Blanka wand sich, bis ihr Finger erneut in die vorherige Richtung zeigte. „Mama!“, rief sie noch einmal und begann zu weinen. Sie deutete direkt auf Schwester Venia.
Die Klosterschwester starrte Rainald und Blanka an. Ihr Gesicht zuckte. Dann trat sie beiseite, drehte sich um und folgte Blankas Finger mit den Blicken. Rainald, der sein Herz in seinem Hals klopfen spürte, kniff die Augen zusammen. Etwas Kleines, Undefinierbares lag neben der Spur, die sie in den Schnee gezogen hatten. Rainalds blickte auf Blankas Gürtel. Nur noch der Ritter steckte darin.
„Oh nein“, flüsterte er.
„Ich laufe zurück und hole die Puppe“, sagte Schwester Venia.
„Nein!“, rief Rainald. „Wir bleiben zusammen.“
„Sie braucht sie.“ Schwester Venia raffte ihren Habit und eilte mit weit ausholenden Schritten zurück.
In Rainalds Augen schien der alte Obstbaum immer weiter zurückzuweichen und ihre Spur sich zu dehnen und fortzustreben, während Schwester Venia keinen Schritt vorwärts kam. Er bildete sich ein, ein scharfen Befehl zu hören, aber in Wirklichkeit kamen die Wölfe vollkommen schweigend unter den Bäumen hervor und rannten auf sie zu.
***
Der zweite Baum war Rainald und den Kindern näher als der erste. Schwester Venia wiederum mochte die halbe Strecke zwischen beiden zurückgelegt haben. Rainald und Johannes wechselten einen Blick, und auch wenn der Blick weniger als einen Herzschlag lang dauerte, lag doch die Bedeutung von Monaten und ein Berg aus Enttäuschung, Hass und Verzweiflung darin. Dann wirbelte Rainald herum, packte Johannes’ Mantel, umklammerte Blanka noch fester und begann, auf den zweiten Baum zuzuhasten. Seine Beine schrieen bei jedem Schritt auf, Blanka, die zappelte und weinte, war das Gewicht der Welt in seinem Arm. Sein Atem flog schon nach wenigen Schritten. Er glaubte das Gehechel der Wölfe und das Trommeln ihrer Pfoten zu hören und meinte, die ersten schon an seinen Fersen zu spüren. Den Schrei, mit dem Schwester Venia fiel, vernahm er mehr mit dem Herzen als mit dem Gehör, ebenso wie das Knurren und Japsen der Wölfe und das Reißen der Kleidung und
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