Der Hirte (German Edition)
durch den Wald, in der nur hier und da dünne Bäumchen standen, als habe eine gewaltige Sense eine Spur von der Breite eines halben Dorfs in die Landschaft gemäht. Rainald wusste, dass unter dem Schnee und einer dünnen Lage aus verfaulenden Blättern und Zweigen nackter Fels zutage trag, auf dem nur stellenweise Bäume wachsen konnten. Er kannte mehrere solcher Stellen; sie waren wie Narben auf der Haut des Landes. Eine zu regelmäßige Ansammlung von Formen unter der Schneedecke bewies, dass Menschen vor langer Zeit gedacht haben mussten, die Lichtung sei ein idealer Siedlungsort. Die Ruinen sagten: wir sind von Menschenhand geschaffen worden. Ein Weiler mochte hier gestanden haben, vielleicht auch nur Köhlerhütten. Die Ruinen sagten: wer hier versucht hat zu leben, hat aufgegeben. Rainald musterte die zerfallenden Mauerreste unter ihrem Leichentuch aus Schnee; hier hatte sich das Versagen manifestiert.
„Eine freie Fläche …“, sagte Schwester Venia. Rainald hörte die Frage, die sie ihm zwischen den Worten stellte: war es eine Fläche, in der die Wölfe angreifen würden?
Das Geheul hatte sich nicht wieder hören lassen. Er hatte niemandem von dem Schatten erzählt, den er am Fluss zwischen die Bäume hatte gleiten sehen. Natürlich jagten die Wölfe sie weiterhin; sie taten es nur stumm. Es bestand kein Bedarf mehr, untereinander zu kommunizieren. Die Jäger hatten die Beute gesehen, gerochen, mit all ihren Sinnen erfasst. Sie würden sie nicht mehr verlieren.
Es war eine Fläche, in der die Wölfe angreifen würden. Rainald wusste es so sicher, wie er wusste, dass sein zielloses Herumstapfen seit ihrem Aufbruch von der Furt sie in unregelmäßiger Bewegung näher an die Stadt heranbrachte, obwohl er es nicht wollte. Was alles andere betraf, war er ratlos. Dass die Lichtung einst von Menschen bewohnt gewesen war, hätte normalerweise bedeutet, dass das Wolfsrudel sie mied. Doch dies war kein normales Wolfsrudel, und ihr Anführer kein Wolf. Ein Hund konnte seine Treue und seine Pflicht gegenüber den Menschen vergessen und zu einer wilden Bestie werden, aber eines vergaß er nicht: dass es weder vor einer gerodeten Fläche noch vor einer Handvoll unbewaffneter Flüchtlinge ernsthaft etwas zu fürchten gab. Rainald sah sich außerstande nachzuvollziehen, was die Wölfe tun würden, so wie er auch keine Idee hatte, was er und seine kleine Gruppe als nächstes tun sollten. Die letzte halbe Stunde war nichts weiter gewesen als die Flucht vor der Tatsache, dass er mit seinem Latein am Ende war, dass er sich der Kinder und Schwester Venias wegen in Richtung auf die Stadt in Marsch setzen musste und dass er ein toter Mann war.
„Ich glaube, die Wölfe haben genug“, sagte Johannes. „Sie haben Angst, seit du zwei von ihnen niedergestreckt hast. Sie haben aufgegeben.“
Rainald begegnete Schwester Venias Blick. Sie wusste ebenso gut wie er, dass die Hoffnung eitel war.
„Komm, Blanka“, sagte er und bückte sich. „Ich trag dich wieder.“
Blanka war seit der missglückten Flussüberquerung neben ihnen hergestolpert. Im Wald lag der Schnee unregelmäßig, dort zu Wehen aufgehäuft, hier nur als feiner Belag; ihren kurzen Beinen war es leichter gefallen, dort vorwärts zu kommen als im Freien am Flussufer. Sie hatte den Verlust ihrer Schätze mit Fassung getragen. Lediglich den Ritter, der kopfüber im Schnee gesteckt war, hatte sie an sich genommen, und nach kurzer Suche, während derer Rainald seine Kleidung wieder in Ordnung gebracht hatte, die zu ihm gehörende weibliche Puppe. Eigentlich waren beide als König und Königin gedacht gewesen in einer Sammlung weiterer Spielfiguren, die zu schnitzen Rainald irgendwie nie die Zeit gefunden hatte. Allein, wie sie waren, hatte Blanka sie kurzerhand zu einem Ritter mit seiner Frau ernannt, und Rainald vermutete, dass er die Namen kannte, die sie ihnen gab, wenn sie im Stillen mit ihnen spielte: Rainald und Sophia. Beide Figuren steckten jetzt einsam in Blankas Gürtel als sichtbares Symbol dafür, was alles verloren gegangen war.
„Wir könnten außen herum gehen“, sagte Schwester Venia.
„Ja“, sagte Rainald und trat in die Lichtung hinaus. Er musste nicht hinzufügen, dass er überzeugt war, dass die Wölfe sie früher oder später stellen würden, und jede Minute, um die dieses Zusammentreffen verzögert wurde, schwächte Rainalds Kräfte.
Der Himmel war mittlerweile merklich dunkler geworden, eine bleigraue, einheitliche Fläche, aus der unablässig
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