Der Hirte (German Edition)
Schulter und musterte ihn voller Angst.
„Papa, sie sind weg.“
Rainald wandte den Blick ab und suchte den Körper zu seinen Füßen. Es war ein Wolf. Er war tot. Der Schnee um ihn herum war rot. Johannes zerrte weiter an der Schulter seines Vaters, und Rainald schaffte es irgendwie, erst ein Bein und dann das andere anzuziehen und aus seiner knienden Position in die Höhe zu kommen. Schwankend blieb er stehen. Sein Körper fühlte sich wund und roh an. Er wandte langsam den Kopf.
Mit dem Wolf zu seinen Füßen waren es sechs, die verstreut um ihn herum lagen. Keiner von ihnen atmete noch. Rainald blinzelte erneut. Schluchzen drang in sein Ohr, und er drehte sich um wie ein Mann unter Wasser. Blanka kauerte auf dem Ast über ihm. Er streckte sich, ächzte, als der Schmerz durch seine Glieder fuhr, und griff nach ihr. Er musste sie fast mit Gewalt vom Baum pflücken, und als ihr Gewicht in seinen Armen lag, taumelte er.
„Du hast sie alle vertrieben, Papa“, sagte Johannes.
„Schwester Venia …“, sagte Rainald mit einer ihm fremden Stimme. „Ich habe sie im Stich gelassen. Ich habe sie nicht … ich habe stattdessen …“
Er hatte stattdessen seine Kinder in Sicherheit gebracht. Während die Wölfe die junge Frau getötet hatten, hatte er dafür gesorgt, dass seinen Kindern nichts geschah. Er sah plötzlich einen kleinen Jungen vor sich, der sich in eine Truhe kauerte, ein noch kleineres Mädchen in den Armen, der er den Mund zuhielt, damit sie nicht schreien konnte, und der sich deshalb die Ohren nicht zuhalten konnte, um die anderen Schreie von außerhalb der Truhe auszusperren, die Schreie seiner Mutter. Der Junge hatte getan, was ihm das Richtige erschienen war, hatte das Einzige getan, wozu er in der Lage war. Rainald hatte ebenfalls das getan, was ihm möglich war. Die andere Alternative wäre gewesen … die andere Alternative wäre gewesen, zu Schwester Venia zu eilen und sie alle drei zu verlieren, die Klosterschwester, den Sohn, die Tochter … und am Ende sich selbst.
Er konnte dem Blick Johannes’ nicht länger standhalten. Er wandte sich ab und spähte zu dem dunklen Bündel hinüber, das auf halbem Weg zwischen diesem und dem ersten Baum lag. Es hatte eine immer breiter werdende rote Spur in den Schnee gezogen, die dort endete, wo es lag. Die Spur nahm ihren Ausgang bei der aufgewühlten, zerrissenen Stelle, an der Rainald den Wölfen seinen Kampf geliefert hatte. Er blinzelte ein drittes Mal, weil er nicht verstand.
Zuletzt hob er den Blick und starrte den ersten Baum an. Eine schwarz-weiße Gestalt hockte in der obersten Astgabel und winkte, dann begann sie herunterzuklettern.
***
„Als kleines Mädchen war ich gut im Klettern“, sagte Schwester Venia. „Und erst recht im Laufen.“
Sie hatte Rainald nicht angeboten, das halbe Dutzend Biss- und Kratzwunden zu verbinden, das seinen Körper überzog, und er hatte sie nicht darum gebeten. Er reinigte sie so gut er konnte mit Händen voll Schnee und war fast dankbar für die Kälte, weil sie das Brennen abstumpfte. Er hatte schon schlimmere Wunden empfangen, aber er hatte sie niemals in einem solchen Stadium körperlicher und seelischer Erschöpfung ertragen müssen. Der Schnee blieb in den Wunden liegen, schmolz zu roten Kristallen zusammen und stillte den Blutfluss.
Blanka saß an den Obstbaum gelehnt und spielte mit den beiden Holzpuppen. Sie spielte stumm. Rainald vermied es, ihr dabei zuzusehen; ihr Verhalten ließ noch mehr Angst in ihm aufsteigen, als er ohnehin empfand. Er beugte sich ächzend nach vorn, um einen der Stoffstreifen aufzuheben, den er von seinem zerschlissenen Waffenrock geschnitten hatte. Schwester Venia folgte seiner Bewegung mit den Blicken. Sie machte keine Anstalten, den Streifen aufzuheben und ihm zu geben. Er war dankbar dafür. Wenn sie ihm den Streifen gegeben hätte, hätten ihre Hände sich berührt, und er wusste nicht, was er getan hätte, wenn das geschehen wäre. Ihr Gesichtsausdruck war nicht zu deuten, doch er nahm an, dass ihre Gedanken in eine ähnliche Richtung gingen.
„Was ist passiert, Rainald?“
Er band den Stoffstreifen um die tiefste Wunde in seinem Oberschenkel. Er spürte bereits, wie das Bein steif wurde. Er rappelte sich aus der Sitzposition auf und stellte sich auf das Bein. Es wollte nachgeben, aber er zwang es dazu, standzuhalten. Wenn er es schonte, würde er es in ein paar Minuten nicht mehr gebrauchen könnte. Er machte einen Schritt nach vorn. Der Schmerz war auszuhalten. Er
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