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Der Hirte (German Edition)

Der Hirte (German Edition)

Titel: Der Hirte (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Dübell
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Schwester Venias Röcheln. Er rannte in den Baum hinein, dass er zurückprallte und zu Boden ging. Er wusste nicht, dass er vor Wut, Entsetzen und Scham gleichermaßen brüllte, weil er die junge Frau schutzlos den Wölfen überlassen hatte, und weil es das Einzige war, was er hatte tun können, wenn nicht er und die Kinder den Wölfen ebenfalls zum Opfer fallen sollten. Brüllend und stöhnend kam er auf die Beine, zerrte Blanka aus dem Schnee und warf sie fast auf einen Ast über seinem Kopf. Johannes krabbelte allein hinauf, mit pfeifendem Atem, leichenblassem Gesicht und weit aufgerissenen Augen. Rainald packte ihn am Genick und schob ihn auf den gleichen Ast wie Blanka, schrie: „Hinauf, hinauf!“, schob seinen Sohn in die Höhe, als dieser nach dem nächsthöheren Ast griff, bog Blankas verzweifelt sich an ihren Halt krallende Finger auseinander und schob sie Johannes hinterher, der zugriff und sie nach sich zog wie ein Lumpenbündel. Blanka kreischte mit geschlossenen Augen und schüttelte den Kopf. Johannes stöhnte.
„PAPA!“, schrie er.
Doch Rainald wirbelte herum, zog das Schwert, presste den Rücken an den Baumstamm und machte sich daran, so viele Wölfe wie möglich mit in den Tod zu nehmen.

***

Der erste war ein schlanker Schatten, der durch die Luft flog. Rainald sah ihn als die Lanze, die der Seldschuke auf dem Pferd gehalten hatte, als Rainald und sein Schwager sich vor den Stadtmauern Iconiums Rücken an Rücken verteidigten. Es gab keine Ausbildung für den Kampf gegen Wölfe, aber es gab eine für den Kampf gegen einen bewaffneten Gegner, und die Regeln waren gleich. Rainalds Schwert zuckte hoch, durchschlug den Lanzenschaft, seine Füße machten die nötigen Tanzschritte von allein, das Schwert zuckte wieder herunter, und hinter Rainald und Wolfram brach das Pferd des Seldschuken in die Knie, warf seinen Reiter ab und blieb liegen.
Der zweite Reiter war schon zu nahe. Wolfram und Rainald stoben auseinander, Rainald hechtete zur Seite und kam mit einer Rolle wieder auf die Beine, sah, wie der Reiter versuchte, im vollen Galopp die Zügel herumzureißen, sah, wie das Pferd stolperte, ließ es halb an sich vorbeirasen und schlug dann zu, sah einen Körper zu Boden stürzen. Dann verwandelte sich alles in einen Wirbel, der Geist löste sich vom Körper, weil er nicht mehr Teil dieser großen Schlächterei sein wollte, obwohl er Mittelpunkt und Auslöser einer nicht minder großen Schlächterei inmitten all der Gewalt eines riesigen Kampfes war. Er sah Gestalten um sich herum heranrennen, springen, fallen, liegen bleiben … er sah, wie Wolfram unter dem Ansturm mehrerer Gegner zu Boden ging, doch Wolfram trug statt seines Waffenrocks den Habit einer Klosterschwester; er streckte einen Angreifer nieder und sah ihn über den Sand rollen, doch der Sand war weiß und pulvrig und der Angreifer trug ein graues Fell statt eines Kettenpanzers. Er hätte das Kriegsgebrüll und das Wiehern der Pferde und die Befehle und das Aufprallen von Klingen auf Schilde und das schreckliche Zischen der Pfeile hören sollen, doch statt dessen hörte er nur ein qualvolles schnelles Hämmern, das das Hämmern seines Herzens war, und sein eigenes Keuchen. Schließlich gaben seine Knie nach, und er fiel vornüber in den Sand. Der Sand war kalt. Er starrte auf den Körper Wolframs, der schmaler war als er ihn Erinnerung hatte, noch immer den schwarz-weißen Habit trug und zu still lag, viel zu still. Er spürte, wie sein Bewusstsein zu schwinden drohte, und ihm fiel ein, dass es nicht weiter schlimm war, denn Caesar würde ihn aufwecken und davontragen, bevor die Todeskrähen des Schlachtfelds mit ihren gnädigen Messern kamen. Gleich darauf fiel ihm ein, dass Caesar tot war, dass er ihn selbst vor der kleinen Kapelle im Wald getötet hatte, und das Rütteln an seiner Schulter befremdete ihn, weil er sich nicht erklären konnte, woher es kam. Er kroch davon, packte den toten Wolfram bei der Schulter und drehte ihn um (zu leicht, sein Körper war nicht nur zu schmal, sondern auch zu leicht), schob den verrutschen Nonnenschleier beiseite und stierte ihm ins Gesicht.
Das Gesicht seiner toten Frau starrte ihn an, mit weit aufgerissenen Augen.
Die Augen waren gelb.
Wolfsaugen.

***

„Papa!“
Rainald schloss die Augen und holte Atem. Ihm schien, als wäre es der erste Atemzug nach Stunden des Luftanhaltens. Die Welt um ihn herum wurde stofflicher und der Boden realer. Er blinzelte. Johannes stand neben ihm, zerrte an seiner

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