Der Historiker
und von wem. Aber vielleicht sollte ich ein wenig weiter ausholen.‹ Er schwieg einen Moment, und ich hatte das Gefühl, dass das Thema schwierig für ihn war. ›Ich habe vor neun Jahren in Oxford meinen Abschluss gemacht und dann an der Londoner Universität eine Stelle angenommen. Meine Familie lebt in Cumbria im Lake District, und wir sind nicht gerade wohlhabend. Sie mussten sich ziemlich zur Decke strecken, und ich mich auch, damit ich die bestmögliche Ausbildung bekam. Ich habe mich immer ein bisschen außen vor gefühlt, wissen Sie, besonders auf der Privatschule, auf der ich war. Mein Onkel hatte geholfen, dass ich dort hinkonnte. Ich denke, ich habe härter gearbeitet als die meisten anderen, weil ich besonders gut sein wollte. Geschichte war meine große Liebe, von Anfang an.‹
Hugh tupfte sich die Lippen mit seiner Serviette ab und schüttelte den Kopf, als erinnerte er sich an seine jugendlichen Verrücktheiten. ›Zu Ende meines zweiten Jahrs an der Universität wusste ich, dass ich einen ziemlich guten Abschluss machen würde, und das spornte mich noch stärker an. Dann kam der Krieg, und alles wurde unterbrochen. Ich hatte fast drei Jahre in Oxford hinter mir. Damals hörte ich übrigens zum ersten Mal von Rossi, obwohl ich ihn nie traf. Er muss etliche Jahre vorher schon nach Amerika gegangen sein.‹
Er rieb sich das Kinn mit seiner großen, ziemlich rissigen Hand. ›Ich hätte mein Studium nicht noch mehr lieben können, aber ich liebte auch mein Land, und so meldete ich mich zur Navy. Ich wurde nach Italien ausgeschifft und war ein Jahr später wieder zu Hause, mit Verletzungen an Armen und Beinen.‹
Behutsam fasste er auf den Ärmel seines weißen Hemdes, als spüre er die Verwundung von damals. ›Ich war ziemlich schnell wiederhergestellt und wollte zurück an die Front, aber sie wollten mich nicht mehr nehmen: Ein Auge war in Mitleidenschaft gezogen worden, als das Schiff getroffen wurde. Also ging ich zurück nach Oxford, versuchte, die Sirenen zu überhören, und machte meinen Abschluss direkt nach Kriegsende. Die letzten Wochen dort gehörten zu den glücklichsten meines Lebens, denke ich, trotz aller Entbehrungen. Dieser schreckliche Fluch war von der Welt genommen worden, ich war mit meinem verzögerten Studium fast am Ende, und ein Mädchen bei uns zu Hause, das ich fast mein ganzes Leben schon liebte, hatte endlich eingewilligt, mich zu heiraten. Ich hatte kein Geld, zu essen gab es sowieso kaum etwas, aber ich saß in meiner Studentenbude, futterte Sardinen aus der Büchse, schrieb Liebesbriefe an meine Zukünftige – ich nehme an, Sie haben nichts dagegen, wenn ich Ihnen das alles erzähle – und paukte wie ein Besessener für meine Prüfungen. Ich arbeitete bis zur völligen Erschöpfung.‹
Er nahm die Flasche Tokajer, aber sie war leer, und er stellte sie mit einem Seufzen wieder ab. ›Das ganze Martyrium war fast vorüber, und wir hatten den Hochzeitstermin auf Ende Juni festgelegt. Am Tag vor meiner letzten Prüfung saß ich bis in die frühen Morgenstunden noch über meine Unterlagen gebeugt. Ich wusste, ich hatte längst getan, was zu tun war, aber ich konnte nicht anders. Ich saß in einer Ecke der College-Bibliothek, leicht versteckt hinter ein paar Bücherregalen, wo ich die anderen Verrückten nicht im Blick hatte, die in ihren eigenen Notizen herumwühlten.
Es gibt einige unglaublich schöne Bücher in diesen kleinen College-Bibliotheken, und ich ließ mich einen Moment von einem Band mit Dryden-Sonetten ablenken, der eine Armlänge entfernt stand. Endlich schlug ich ihn wieder zu und dachte, es sei das Beste, draußen eine Zigarette zu rauchen und mich dann noch einmal neu zu konzentrieren. Also stellte ich das Buch zurück an seinen Platz und ging hinaus auf den Hof. Es war eine laue Frühlingsnacht, und ich stand da und dachte an Elspeth und das Cottage, das sie für uns herrichtete, und an meinen besten Freund, der mein Trauzeuge geworden wäre, wenn er nicht mit den Amerikanern auf den Ölfeldern von Ploesti umgekommen wäre. Dann ging ich zurück in die Bibliothek. Zu meiner Überraschung lag der Dryden-Band wieder auf meinem Tisch, als hätte ich ihn nicht zurückgestellt, und ich dachte schon, ich sei wegen all der Lernerei mittlerweile ernsthaft durcheinander. Als ich den Band ein zweites Mal an seinen Platz stellen wollte, musste ich feststellen, dass es keinen dafür gab. Das Buch hatte gleich neben Dante gestanden, da war ich sicher, aber dort
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