Der Höllenbote (German Edition)
diesem Gebäude gearbeitet, und nach dem, was geschehen war, musste sie es einfach betreten. »Ich bin Jane Ryan«, sagte sie abwesend. »Ich bin die Leiterin der Westfiliale.« Sie zeigte dem Polizisten ihren Ausweis. »Ich kannte viele der Leute, die hier ums Leben kamen. Können Sie mich nicht für eine Minute hineinlassen?«
Der Polizist dachte kurz über ihre Bitte nach. »Gut, Ms. Ryan. Aber es sind noch ein paar Leute von der Spurensicherung da. Also sehen Sie zu, dass Sie nicht im Weg stehen. Und halten Sie sich nicht zu lange auf; sobald die Spurensicherung fertig ist, wird das Gebäude versiegelt.«
»Vielen Dank.«
Er ließ sie durch die Absperrung und dann schritt sie in die Schalterhalle.
Die Türen glitten hinter ihr zu und eine tödliche Stille schlug ihr entgegen. Es war extrem kalt; sie zitterte, als sie voller Entsetzen an den Briefmarkenautomaten und den Postfächern vorbeiging. Dann hörte sie Stimmen.
Die Glastür zum Kundenbereich stand offen. Jane roch etwas, das sie an Desinfektionsmittel erinnerte. Zwei Männer in blauen Overalls wanderten dort umher. Einer von ihnen hielt eine große Asservatentüte mit leeren Patronenhülsen in der Hand, der andere etwas, das wie ein Angelkasten aussah.
»Ich glaube, das war’s«, sagte der eine. »Das Reinigungsteam hat gute Arbeit geleistet, was? Man sollte denen einen Orden verleihen.«
»Scheiße, das ganze Blut«, antwortete der mit dem Beutel. »Ich hoffe, sie hatten Gummistiefel an.«
Ein humorloses Lachen. »Besser die als wir.«
»Da hast du recht. Kaum zu glauben, dass hier noch vor ein paar Stunden ein Haufen toter Menschen herumlag. Ich arbeite jetzt seit zehn Jahren für die Spusi, sechs davon in Miami, aber noch nie habe ich so viele Tote auf einmal gesehen. Im Leichenschauhaus werden sie heute Nacht Überstunden einlegen, da kannst du drauf wetten.«
»Hast du die eine gesehen, die sie rausgetragen haben – eine der letzten? Sie gehörte zu den Angestellten, die im hinteren Bereich gearbeitet haben.«
In grimmigem Tonfall kam die Antwort: »Oh, die Schwangere ...«
»Mann, ich könnte mir in die Hosen machen, wenn ich nur daran denke, was aus dieser Welt geworden ist. Und das hier hat eine Frau angerichtet! Wie oft hat man das schon erlebt – eine Frau, die Amok läuft?«
»Noch nie. Ich tippe auf Prämenstruelles Syndrom.«
»Mittlerweile kann man doch die Bekloppten nicht mehr von den Normalen unterscheiden. Mann, diese Frau hat bei uns die Post zugestellt!«
»Da wird einem ganz anders, was? Erst schlitzt sie ihren Kerl und den Jungen auf wie einen Sonntagsbraten, dann kommt sie hierher und veranstaltet ihr eigenes beschissenes Valentinstag-Massaker. Scheiße, Mann.«
»Und da überlegt man doch ...«
»Was denn?«
»So was wie das hier kann jederzeit und überall passieren!«
Ein Lachen zerriss die profane Feierlichkeit, aber es klang gezwungen. »Das nächste Mal könnte es mich erwischen. Oder dich.«
»Es könnte jeden erwischen.«
Eine Pause, ein letzter Blick in die Runde, dann: »Komm, Mann. Lass uns aus diesem elenden Schlachthaus verschwinden.«
Jane erwachte aus ihrer verstörten Benommenheit, als das mürrische Geplapper endete. Sie wollte nicht von den Männern gesehen werden und hier sein wollte sie auch nicht länger. Tatsächlich wusste sie nicht einmal mehr so genau, warum sie überhaupt hergekommen war.
Sie fischte ihre Autoschlüssel aus der Tasche und hastete aus dem Gebäude, in der Hoffnung, es nie wieder betreten zu müssen. Obwohl man die Leichen schon vor Stunden abtransportiert hatte, wurde Jane das Gefühl nicht los, aus einem Massengrab zu fliehen.
Kapitel 3
(I)
Unter anderen Umständen hätten die beiden Kinder ein perfektes Bild abgegeben, wie sie so still und respektvoll mit vor dem Körper gefalteten Händen dastanden. Der achtjährige Junge – er hieß Kevin – sah sehr adrett aus in seinem marineblauen Blazer mit Goldknöpfen, der grauen Hose und der blau-golden gestreiften Krawatte. Sein mandelbrauner Pony war perfekt gekämmt, nicht ein Haar stand ab. Kevin war ein braver und artiger Junge, jedenfalls meistens. Er verstand zwar nicht alles, was sich hier abspielte – oder was passiert war –, aber er wusste, dass er sich heute gut benehmen musste. Kein Pieps war von ihm zu hören.
Neben ihm, genauso ordentlich zurechtgemacht, stand seine elfjährige Schwester Jennifer. Groß und schlank, mit den gleichen Augen wie ihr Bruder. In ihrem marineblauen Rock mit goldenem
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