Der Höllenbote (German Edition)
Polizisten mit Klemmbrettern und Mitarbeiter der Spurensicherung hin und her eilten. Und im Vordergrund luden weitere Sanitäter abgedeckte Bahren in die Rettungswagen. »Von offizieller Seite ist die Rede von 26 Todesopfern. Es gab bei diesem unerklärlichen, grauenhaften Amoklauf keine Überlebenden.« Um die Geschmacklosigkeit der Übertragung zu unterstreichen, fuhr die Kamera näher an eine der Bahren heran. Mittlerweile waren der Polizei die Leichensäcke ausgegangen, und man musste sich mit Decken begnügen. Die Decke, die diese Leiche verhüllte, war fast vollständig mit Blut durchtränkt, und als die Sanitäter die Bahre anhoben, um sie in den Wagen zu schieben, rutschte ein Arm darunter hervor. Auf dem Ärmel war deutlich das Logo des U.S. Post Office zu erkennen.
»Die mutmaßliche Attentäterin, Marlene Troy, soll Angaben der Polizei zufolge in der Schalterhalle das Feuer eröffnet haben, wo mehr als ein Dutzend Kunden in der Falle saßen und innerhalb von Minuten getötet wurden. Dann lud Troy nach und erschoss die restlichen im Gebäude anwesenden Personen, allesamt Angestellte der Filiale. Die Polizei von Danelleton traf kurz darauf am Ort des Massakers ein und schoss Troy an einer der Laderampen nieder. Sie erreichte das South County General Hospital offenbar nicht mehr lebend.«
Jane Ryan senkte den Kopf und wandte schließlich den Blick vom Fernseher ab. Ihr Gesichtsausdruck war jetzt nicht mehr entsetzt, sondern verständnislos. Das nagelneue Büro, in dem sie saß, kam ihr vor wie eine Isolationskammer. Sie war nicht in der Lage zu begreifen, was sich nur wenige Meilen entfernt im Hauptpostamt abspielte.
»Marlene war eine meiner besten Zustellerinnen«, sagte sie. »Wir haben fünf Jahre lang in Pasco County zusammengearbeitet. Eine der vernünftigsten Personen, die ich kannte, und nicht nur eine zuverlässige Mitarbeiterin, sondern auch ein großartiger Mensch.«
Jane wischte sich die Tränen aus den Augen, dann schaltete sie den Fernseher mit der Fernbedienung aus. Ein älterer Herr, der auf einem Stuhl neben ihrem Schreibtisch saß, teilte ihre Betroffenheit: Buchanan, der Bezirksleiter der Post.
»Ich weiß, wie Ihnen zumute ist, Jane«, meinte er mit einem Nicken. »In Kalifornien, bei meiner ersten Stelle als Postamtsleiter, hatte ich einen Zusteller, der eines Tages seine Tour unterbrach und vier Menschen in einem Fast-Food-Restaurant erschoss. Wie sich herausstellte, war er nicht darüber hinweggekommen, dass ihn seine Frau einige Monate zuvor verlassen hatte. Seit diesem Tag nahm er Kokain. Niemand wusste davon. Anscheinend passiert es immer mal wieder, dass jemand durchdreht, und zwar aus unterschiedlichsten Gründen. Stress, Geisteskrankheit, Drogen, Alkoholprobleme. Keine Stadt ist immun dagegen – es kann überall passieren.«
Die Worte konnten ihre Trauer und Verwirrung nicht zerstreuen. Nichts konnte das. Es ergab schlicht und einfach keinen Sinn. Tragödien wie diese ereigneten sich sonst nie vor der eigenen Tür. Jane konnte nichts weiter tun, als zu nicken und ihre Tränen zu unterdrücken.
»Na ja, jedenfalls sind wir hier mit dem Papierkram fürs Erste fertig. Wenn Sie etwas brauchen, sagen Sie es mir.«
»Okay.«
Buchanan wandte sich zum Gehen, um mit seinen eigenen internen Nachforschungen fortzufahren, blieb aber an der Tür noch einmal kurz stehen. »Ach, da draußen ist übrigens ein Polizist, der mit Ihnen sprechen möchte. Einer von hier. Fühlen Sie sich dazu in der Lage? Wahrscheinlich nicht, nehme ich an, aber früher oder später müssen Sie es tun.«
Grauen überkam sie, aber sie zwang sich dazu, aufrecht zu sitzen. Sie putzte sich die Nase und fuhr schnell mit den Händen durch ihre Frisur.
»Ist schon okay. Schicken Sie ihn ruhig rein.«
Buchanan warf ihr einen letzten mitfühlenden Blick zu, dann verließ er leise das Büro. Einige Sekunden später öffnete sich die Tür erneut und ein Schatten fiel auf den Boden.
»Ms. Ryan?«
Der Mann, zu dem Jane aufblickte, war groß und schlank. Er trug eine dunkle Hose, ein weißes Hemd und einen Schlips. Er sah eher wie ein Ingenieur oder Computerexperte als wie ein Polizist aus; tatsächlich war das Einzige, was auf seinen Beruf hindeutete, die Dienstmarke an seinem Gürtel. Jane schätzte ihn auf Anfang 40. Kurzes sandfarbenes Haar, ganzjährige Floridabräune. Etwas an seinen Augen – ausdrucksstark und leuchtend blau – schien nicht zu passen: Der harte Cop war entweder verwirrt oder verletzt.
Aber
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