Der Höllenbote (German Edition)
und sagte dann etwas wie: Ich habe Ihnen leider eine sehr traurige Mitteilung zu machen ...
Jane wusste sehr gut, wie so etwas ablief, denn jetzt musste sie wieder daran denken, wie vor nicht allzu langer Zeit ein Polizist an ihrer Tür geklingelt hatte. Um ihr mitzuteilen, dass ihr Mann tot war.
»Haben Sie bereits Marlenes Mann und ihren Sohn benachrichtigt?«, fragte sie.
Eine weitere Pause von Higgins, begleitet von einem unbehaglichen Gesichtsausdruck. »Das macht die ganze Sache ja noch schlimmer – eine Benachrichtigung war nicht nötig. Wie es aussieht, hat Marlene Troy heute Morgen, bevor sie zur Arbeit ging, ihren Mann und ihren Sohn erstochen und verstümmelt.« Chief Higgins schloss für einen Moment die Augen. »Und offenbar hat sie die Wände mit ihrem Blut beschmiert.«
Den Rest des Tages erlebte Jane wie unter Betäubung; der Schock klang langsam ab und wich einer kalten Desillusionierung. Die Einzelheiten des Geschehens ließen sie nicht los: die Ermordung von Marlenes Mann und vor allem ihrem Sohn Jeff, den Janes eigene Kinder gut gekannt hatten. Ein Massenschlachten von Erwachsenen war schlimm genug, aber die Ermordung des eigenen Kindes? Das ließ die ganze Angelegenheit noch schlimmer und irrsinniger erscheinen.
Als sie ihr Büro in der Westfiliale abschloss, lag der Rest des Gebäudes in grimmigem Schweigen, obwohl das Lagerpersonal noch arbeitete. Sie fuhr vom Parkplatz und schaltete das Autoradio ein, in der Hoffnung auf etwas aufmunternde Musik. Stattdessen hörte sie: »... die neuesten Erkenntnisse über die entsetzlichen Morde in einem Postamt in Danelleton, Florida, wo heute eine bislang unbescholtene Mitarbeiterin mit einer Automatikwaffe das Feuer auf die anwesenden Kunden eröffnete und anschließend alle im Gebäude Anwesenden tötete ...«
Jane wechselte den Sender: »... die 36-jährige Marlene Troy, die ihren Kollegen als freundliche, zuverlässige und ausgeglichene Zustellerin bekannt war, den blutigsten Amoklauf in der Geschichte Floridas ...«
Mein Gott! Jane drückte eine andere Stationstaste: »... erstach und verstümmelte ihren Mann und ihren Sohn in deren Betten, bevor sie 26 Menschen mit einer Maschinenpistole ...«
Zähneknirschend schaltete Jane das Radio aus.
Sie fuhr durch die Straßen in der Hoffnung, einen klaren Kopf zu bekommen, aber die friedliche Stadt und der Anschein von ruhiger Normalität verstärkten nur die Schrecken dieses Tages. Die Dinge waren niemals so, wie sie zu sein schienen. Die Menschen waren nie, wie sie zu sein schienen. Danelleton schien die ruhigste und vernünftigste Stadt zu sein, die man sich vorstellen konnte. Und dann passiert so etwas! Wahnsinn war die einzige Erklärung – und Wahnsinn blieb in den meisten Fällen unentdeckt.
Jedenfalls in diesem Fall.
Die Straße, die am Pier entlangführte, mit den Läden auf der anderen Straßenseite, machte einen verlassenen Eindruck. Nur wenige Fußgänger liefen auf dem Bürgersteig entlang und alle wirkten finster und mürrisch. Diese Stadt trägt eine Maske, genau wie jede andere Stadt. Nach außen hin normal, aber wer weiß schon, was sich dahinter abspielt? Jeder einzelne dieser unauffälligen Menschen könnte genauso durchdrehen und den Verstand verlieren wie Marlene.
Jane schob den Gedanken beiseite. Normalerweise würde sie jetzt direkt nach Hause zu ihren Kindern fahren, die mittlerweile vom Spielen zurück sein müssten, aber irgendetwas trieb sie dazu, die Ausfallstraße zu verlassen. Sie fuhr um den Block herum und parkte vor dem Hauptpostamt ...
Die Sanitäter waren verschwunden, alle Leichen fortgeschafft. Einige Streifenwagen standen noch dort, außerdem ein Wagen der Spurensicherung. Das lang gestreckte Backsteingebäude sah monoton und kalt aus, selbst im strahlenden Sonnenschein. Völlig anders als Janes fröhliches, hell gestrichenes Postamt im Westen. Wieder war es der äußere Schein, der sie so aufwühlte: die Illusion von Aufrichtigkeit und Verlässlichkeit. Das Hauptpostamt sah aus wie viele andere öffentliche Gebäude auch – sehr nüchtern –, aber beileibe nicht wie der Schauplatz eines Massenmordes. Jane konnte noch immer nicht begreifen, was sich heute Morgen hier abgespielt hatte.
Ein uniformierter Polizist bemerkte ihre Postuniform und hielt sie auf. »Tut mir leid, Ma’am. Der Tatort darf nicht betreten werden.«
Aus einem Grund, den sie nicht genau benennen konnte, verspürte Jane das Gefühl, dass sie hineingehen sollte. Jahrelang hatte sie in
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