Der Höllenbote (German Edition)
alle Lampen funktionierten, bereitete die Sortiermaschinen vor, schaltete überall den Strom ein, solche Sachen eben. Kein besonders harter Job, aber auf seine Art unverzichtbar. Die ersten Lkws fuhren gegen fünf Uhr vor, auch dafür musste alles vorbereitet sein.
Kein Knochenjob, was, Bobby? Nee, is’n reines Eierschaukeln.
Pfeifend ging er die tägliche Checkliste durch. Er fand die noch immer ungewohnte Umgebung dieses Gebäudes beruhigend; bis vor Kurzem hatte er im Hauptpostamt gearbeitet und was dort passiert war, würde wohl niemand je vergessen. Yeah, is’ das zu glauben, Bobby? Tobt sich die bekloppte Alte mit ’m MASCHINENGEWEHR im Postamt aus! Yeah, aber VORHER hat sie noch ihren Alten und den Jungen umgelegt! Nein, diese Scheiße konnte man wirklich kaum glauben.
Bobby hatte die Frau eigentlich nicht gekannt, sie nur morgens immer gesehen, wenn sie zur Vorsortierung kam. Ihren Feierabend hatte er nie mitbekommen, denn da war seine Schicht längst zu Ende. Schien aber ’ne ganz Nette zu sein, hm, Bobby? Klar, und was fürs Auge. Ganz ordentlich Holz vor der Hütte und auch hintenrum nich’ von schlechten Eltern. Bah, Bobby, hör auf mit dem Scheiß. Die Alte is’ TOT und du denkst nur an ihren Arsch, Mann! Ja, hast ja recht ...
Aber das bewies doch einmal mehr, wie bescheuert die Welt war. Wie total bescheuert, durchgedreht und bekloppt.
Bobby seufzte. Der letzte Punkt auf seiner Checkliste fühlte sich immer wie ein Tritt in den Hintern an. Auf geht’s, Bobby. Befüllen wir ALLE bekloppten Briefmarkenautomaten vorne in der Halle. Oh, Mann, wie ich das HASSE. Da vorne stehen ZEHN von diesen bescheuerten Automaten.
Was du nich’ sagst, Bobby.
Drei Cent, 37 Cent, Express, Luftpost, Dollarmarken, Zehnerpacks, Zwanzigerpacks und 100-Marken-Rollen – all diese Fächer mussten nachgefüllt, die Geldfächer geleert, die Münzwechsler bestückt werden. Ungeheuer langweilig.
Aber der Rest des Tages verlief für Bobby dann gar nicht mehr langweilig, als er in die Schalterhalle stapfte, die Schlüssel in der einen Hand, einen Beutel voll Briefmarken in der anderen, und Dixie vor sich hin pfiff.
Er ging um die Schalter herum, an der ersten Reihe der Schließfächer vorbei, und blieb wie angewurzelt stehen.
Ließ seine Schlüssel fallen.
Ließ die Briefmarken fallen.
Und dann trieb ihm die Horrorvision, die ihm dort entgegenstarrte, das gesamte Blut aus dem Gesicht.
Eine Frau stand in der Ecke bei den Automaten, die Arme ausgebreitet, als ob sie auf Bobby wartete. Sie war nackt und ungeheuer blass. Ihr Haar war eine Mischung aus Blond und Brünett und hing ihr zottelig auf die Schultern. Das konnte doch nur eine durchgeknallte Obdachlose sein, die sich irgendwie ins Postamt geschlichen hatte, oder eine Drogensüchtige oder so was. Was gab es sonst für eine Erklärung, dass sich die Frau in diesem Zustand hier aufhielt? Nackt, struppig, blass?
Aber dann erkannte Bobby die Frau ...
Es war Marlene Troy, die vor einigen Tagen von der Polizei erschossen und längst beerdigt worden war.
Einschusslöcher mit geronnenem Blut übersäten ihren Körper. Erdklumpen hingen in ihren Haaren und Friedhofserde klebte auf ihrer Haut. Die Frau war tot, aber dort stand sie aus eigener Kraft vor ihm. Ihre Augen waren offen, hatten dem Leim des Leichenbestatters getrotzt, das Weiße ihrer Augen gelb gefärbt vom Einbalsamieren. Bobby wusste, dass es unmöglich war, aber für einen Sekundenbruchteil kam es ihm vor, als ob sie blinzelte.
Und ihr Lächeln glänzte wie frisch poliertes Besteck.
Das waren die Details, die Bobby innerhalb weniger Sekunden registrierte. Dann wurde er ohnmächtig und stürzte zu Boden. Die bizarre Skizze, die jemand vor Marlenes Füßen auf den Boden gekritzelt hatte, war ihm hingegen nicht aufgefallen: etwas, das wie eine Glocke aussah.
Nachdem Bobby sich in seine Ohnmacht verabschiedet hatte, sackten Marlene Troys Arme schlaff an ihren Seiten herab, und der Leichnam stürzte direkt auf Bobby.
Kapitel 5
(I)
Jane konnte sich vorstellen, wie es sein musste, wenn man am helllichten Tage irgendwo an einer Straßenecke stand und Zeuge eines tödlichen Verkehrsunfalls wurde, der sich nur wenige Meter entfernt abspielte. Unglück und Tod direkt vor den eigenen Augen.
Genauso fühlte sie sich in diesem Moment in ihrem Büro. Der erste Schock war verflogen und hatte etwas noch Schlimmeres zurückgelassen: eine Art geistigen Kater, eine Kollision ihrer Fassungslosigkeit mit dem Horror
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