Der Hof (German Edition)
glauben, dass Chloe mich belogen hat. Aber Yasmin würde sich so was ja nicht ausdenken. Und die beiden waren immer beste Freundinnen. Chloe hat ihr Dinge anvertraut, die sie sonst niemandem erzählte.
Mich eingeschlossen.
Ich weiß, das ist Selbstzerfleischung, aber ich scrolle trotzdem durch die Liste der entgangenen Anrufe. Nach dem, was Jez erzählt hat, muss Jules ungefähr zu dem Zeitpunkt mit Chloe Schluss gemacht haben, als sie bei mir anrief. Und ich hatte ihren Anruf ignoriert, weil ich einen Film sehen wollte, den ich eigentlich nicht sehen wollte. Mit Leuten, die ich nicht kannte. Ihr Name steht noch da, fast am Ende. Ich sehe ihn auf dem Leuchtdisplay und bin wahnsinnig versucht, einfach anzurufen. Stattdessen rufe ich meine Mailbox ab. Vielleicht habe ich ja einen Anruf von ihr verpasst.
Natürlich ist da nichts.
Ich habe das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen. Also verlasse ich fluchtartig meine Wohnung und rede mir ein, ziellos durch die Gegend zu laufen, bis ich schließlich unweigerlich bei der Waterloo Bridge lande. Ein eher zweckmäßiges Asphaltband, das über den Fluss gespannt ist und auf dem träge der Verkehr neben dem Fußgängerweg fließt. Ich gehe zur Mitte der Brücke und lehne mich gegen die Brüstung. Blicke hinab auf den langsam strömenden Fluss. Ich frage mich, wie es sich wohl angefühlt hat, einfach ins Nichts zu treten. Ob sie noch bei Bewusstsein war, als sie auf die Wasseroberfläche traf. Ob sie Angst hatte.
Ob sie an mich gedacht hat.
Ich verbringe den Rest des Tages damit, mich ordentlich zu betrinken. Manchmal nehme ich das Handy heraus und starre auf Chloes letzten Anruf, der auf dem Display aufgezeichnet ist. Mehrmals bin ich kurz davor, den Eintrag zu löschen, aber ich bringe es dann doch nicht über mich. Der Abend ist warm und sonnig, und ich sitze wie in einer Blase, isoliert von den anderen Leuten, die mit mir auf der Terrasse des Pubs sitzen. Im einen Moment noch betäubt, werde ich im nächsten von Kummer, Wut und Schuldgefühlen überschwemmt. Am erträglichsten ist noch die Wut, und schließlich treffe ich eine Entscheidung. Jetzt weiß ich, was ich zu tun habe. Als das Licht nachlässt, stehe ich auf und gehe auf unsicheren Beinen in Richtung der nächsten U-Bahn-Station. Jules’ Fitnessstudio ist in den Docklands. Ich habe keine Adresse, aber das macht nichts. Ich werde es schon finden.
Ich werde ihn finden.
KAPITEL 18
Der Regen klingt wie das Rauschen eines kaputten Radios. Draußen strömt das Wasser beständig wie ein Glasperlenvorhang über das Küchenfenster. Der Regen ist so heftig, dass die Tür und die Fenster geschlossen bleiben müssen und es in der Küche heiß und stickig ist. Der Regen scheint nicht die ersehnte Abkühlung zu bringen, und der stickige Raum ist beengt und von Küchengerüchen erfüllt.
Mathilde hat sich heute Abend mächtig ins Zeug gelegt. Als Vorspeise gibt es Artischocken in Butter.
«Welchen besonderen Anlass gibt es denn hierfür?», knurrt Arnaud. Die Butter glänzt an seinem Mund und seinem Kinn.
«Keinen besonderen Anlass», erklärt Mathilde. «Ich dachte nur, ihr mögt vielleicht ein bisschen Abwechslung.»
Ihr Vater grunzt und nagt weiter an der Artischocke. Geradezu obszön nuckelt er an der Mitte der fächerförmigen Blätter. Gretchen ignoriert mich fast vollständig, während sie ihrer Schwester mürrisch hilft, das Essen zu servieren.
Georges hat offensichtlich Arnaud nicht erzählt, dass er uns beide vorhin im Wald gesehen hat. Bisher zumindest nicht. Entweder ihn interessieren wirklich nur seine Schweine, wie Gretchen behauptet, oder er hat gelernt, einfach die Augen vor dem zu verschließen, was ihn nichts angeht. Wie auch immer, ich sollte eigentlich erleichtert sein.
Stattdessen bin ich fast enttäuscht.
Ich war den ganzen Nachmittag über in einer seltsamen Stimmung. Es stand außer Frage, dass ich nicht weiter am Haus arbeiten konnte, nachdem der Regen eingesetzt hatte. Mein Mörtel wurde recht schnell matschig, und als der Wind auffrischte und das Gerüst durchrüttelte, hatte ich keine andere Wahl und musste die Leiter runtersteigen. Völlig durchnässt ging ich zurück in die Scheune und schlüpfte aus dem nassen Overall. Durch das Fenster im Dachboden beobachtete ich das Gewitter. Die Landschaft draußen war verändert, die vertraute, idyllische Szenerie zeigte ein wildes Gesicht. Die Felder hinter den vom Wind gepeitschten Bäumen verschwammen im Regen, und der See war kaum mehr als
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