Der Hof (German Edition)
ein Klecks. Als der Donner in der Ferne grollte, stellte ich mir vor, jetzt im See zu schwimmen, während die Oberfläche von den Regentropfen zerhackt wurde.
Stattdessen blieb ich auf dem Dachboden, lauschte dem Trommeln des Regens und wartete darauf, dass es wieder aufhellte. Doch das passierte nicht, und schon bald hatte sich die Neuartigkeit des Gewitters abgenutzt. Ich rauchte ohne viel Vergnügen eine meiner letzten Zigaretten und versuchte, das nächste Kapitel von
Madame Bovary
zu lesen. Aber ich war nicht bei der Sache. Als schließlich der Tag sich dem Abend zuneigte und der Wolkenbruch nicht nachließ, wurde ich unruhig. Zum ersten Mal seit Wochen legte ich meine Armbanduhr wieder um und sah zu, wie die Sekunden vorbeitickten, bis es Zeit war, fürs Abendessen zum Haus zu gehen. Zusammen mit der Besorgnis stellte sich auch ein merkwürdiges Gefühl der Vorfreude ein.
Und nun sitze ich hier, doch das Abendessen ist eher eine Ernüchterung. Alles ist ganz normal. Mathilde umrundet mit der Pfanne den Tisch und serviert jedem von uns eine zweite Artischocke. Sie sind klein und zart, und die fleischigen Blätter saftig und weich. Ich habe nicht besonders großen Hunger, nehme die zweite aber trotzdem. Sie gießt etwas heiße Butter aus der Pfanne auf meine Artischocke, ehe sie weitergeht. Sie ist so unbewegt wie immer.
Als ich ein Blatt vom Strunk reiße und hineinbeiße, bemerke ich meine Uhr am Handgelenk. Sie fühlt sich gleichermaßen vertraut und fremd an, und fast verlässt mich der Mut, weil nur wenige Minuten vergangen sind, seit ich das letzte Mal draufgeschaut habe. Meine Hände bewegen sich so langsam, als müsste ich sie durch flüssigen Honig ziehen. Es ist, als wären auf dem Hof die Gesetze der Physik außer Kraft gesetzt. Vielleicht warte ich aber einfach nur darauf, dass irgendetwas passiert.
«Müssen Sie noch wo hin?», fragt Arnaud.
Ich senke die Hand mit der Uhr. «Ich habe nur jedes Zeitgefühl verloren.»
«Warum? Sagen Sie nicht, Sie wären müde.» Er lacht pfeifend und wedelt mit der zerrupften Artischocke vor meinem Gesicht. «Sie haben heute doch kaum was getan. Der Regen schenkt Ihnen einen Urlaubstag. Wie können Sie da müde sein?» Seine Augen blitzen. Er ist ausgesprochen guter Laune, bemerke ich. Womit er in diesem Raum übrigens der Einzige ist. Gretchen scheint uns mit ihrem Schmollen auf Abstand halten zu wollen, und Mathilde ist stiller als sonst. Ich frage mich, ob ihre Schwester ihr von heute Nachmittag erzählt hat. Die Möglichkeit raubt mir auch das letzte bisschen Lust, ein Gespräch in Gang zu bringen.
Arnaud scheint die unterschwelligen Strömungen am Tisch nicht zu bemerken, weil er sich im Moment ganz auf seinen Hunger konzentriert. Als Mathilde und Gretchen das Hauptgericht servieren – dünne Streifen Schweinefleisch in Kapernsoße –, wendet er sich wieder an mich.
«Hab gehört, die Fäden sind aus Ihrem Fuß raus.»
«Ja.»
«Dann gibt’s also nichts mehr, was Sie aufhält, was?»
«Vermutlich nicht.»
«Das ist etwas, das wir beide feiern müssen.» Er nimmt die Weinflasche und macht Anstalten, mir nachzuschenken.
«Nein danke.»
«Kommen Sie schon. Ihr Glas ist leer. Hier.»
Ich schiebe mein Glas beiseite. «Ich will nichts mehr.»
Er runzelt die Stirn und hält die Flasche geneigt. Die rote Flüssigkeit rinnt fast aus dem Flaschenhals. «Warum nicht? Stimmt was nicht damit?»
«Mir ist heute einfach nicht nach Wein.»
Arnaud kneift den Mund missbilligend zusammen. Er hat sich bereits einen Großteil der Flasche einverleibt, und ich bezweifle, dass es heute die erste ist. Er schenkt sich nach und lässt ihn dabei auf den Tisch schwappen. Drüben am Herd verzieht Mathilde das Gesicht, als die Flasche auf den Tisch knallt.
«Was ist?», will er wissen.
«Nichts.»
Er starrt sie an, aber sie hält den Blick gesenkt und kehrt an ihren Platz zurück. Er nimmt einen Schluck Wein, spießt ein Stück Fleisch mit der Gabel auf und blickt sich am Tisch um, während er kaut.
«Was ist denn heute Abend mit euch los?»
Keiner antwortet.
«Das ist ja, als würde man im Leichenschauhaus essen! Ist irgendwas passiert, von dem ich noch nichts weiß? Hä?»
Die Frage wird mit Schweigen beantwortet. Quer über den Tisch spüre ich Gretchens Blick auf mir ruhen, doch ich tue so, als bemerkte ich es nicht. Arnaud leert sein Glas. Seine gute Laune hat nicht besonders lange gehalten. Er greift wieder nach der Flasche und bemerkt, dass Mathilde ihn
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