Der Hof (German Edition)
und auf der anderen Straßenseite parkt ein Wagen. Ansonsten ist die Straße verlassen. Ich gehe darauf zu und hoffe, dort jemanden zu finden, der mir sagen kann, wo ich bin. Ich habe mich inzwischen von der reicheren Ecke der Docklands ziemlich weit entfernt. Abgesehen von dem Lagerhaus mit dem einsamen beleuchteten Fenster sind alle umliegenden Gebäude baufällig. Hinter einem eingezäunten Stück Brachland schimmert das schwarze Wasser, und an einem kleinen Kai sind die geisterhaften Silhouetten vertäuter Boote zu erkennen. Aber erst als ich die Anzeigetafel des Unternehmers vor dem Lagerhaus und die skelettartigen Formen der Fitnessgeräte im Innern durch das Erdgeschossfenster erkenne, beginne ich zu begreifen, was ich hier sehe. Ich verlangsame meine Schritte und kann immer noch nicht glauben, dass es das ist, wofür ich es halte. Und dann kommt jemand aus der Tür und geht zu dem Wagen.
Das elektronische Piepen beim Entriegeln der Zentralverriegelung hallt weithin hörbar durch die Nacht. Ich bin stehen geblieben und beobachte den Mann, der zum Kofferraum geht und ihn öffnet. Ich verliere ihn kurz aus den Augen, doch dann schlägt er den Kofferraum zu, geht zur Fahrerseite und steigt ein. Reglos stehe ich da. Ich bin keine zehn Meter von ihm entfernt und erkenne Jules eindeutig im gedämpften Licht der Innenbeleuchtung. Das bisschen Mut, mit dem ich mich auf den Weg machte, um ihn mit Chloes Tod zu konfrontieren, ist verschwunden. Er ist hinter dem Lenkrad zusammengesackt. Nichts Selbstgefälliges oder Arrogantes haftet ihm jetzt noch an. Das stoppelige Gesicht sieht müde und abgespannt aus. Seine Augen sind von tiefen Schatten umgeben.
Ich wage nicht, mich zu bewegen, damit er mich nicht entdeckt. Also warte ich. Doch statt loszufahren, kramt er im Innern des Wagens. Was er macht, merke ich erst, als er den Kopf nach unten beugt, einen Finger gegen sein Nasenloch presst und etwas von seinem Handrücken schnupft. Plötzlich wirkt er entschlossener, richtet sich auf und startet den Motor. Im nächsten Moment wird die Straße von Halogenscheinwerfern bestrahlt.
Und ich stehe voll im Lichtkegel.
Ich beschatte die Augen vor dem grellen Licht und hoffe selbst jetzt, er könnte mich vielleicht übersehen. Oder mich zumindest nicht erkennen. Einen Augenblick lang passiert nichts. Dann werden Motor und Scheinwerfer ausgeschaltet. Ich versuche, das Nachbild wegzublinzeln, das sich mir in die Netzhaut eingebrannt hat. Die Autotür geht auf. Jules steigt aus und stellt sich vor den Wagen.
«Was zum Teufel haben Sie hier zu suchen?»
Immer noch geblendet, starre ich auf seine Silhouette. «Chloe ist tot.»
An mehr kann ich nicht denken. Er schweigt. Ein, zwei Sekunden lang hoffe ich wirklich, wir könnten unsere Rivalität beiseiteschieben und einfach darüber reden.
«Und?»
«Haben Sie das gewusst?»
«Ja. Wenn Sie nur deshalb hergekommen sind, können Sie gerne wieder gehen.»
Die Wut, die bereits abgeklungen war, steigt wieder in mir auf. «Was haben Sie ihr angetan?»
«Ich habe gar nichts getan. Das hat sie sich alles selbst zuzuschreiben. Darum nennt man es schließlich
Selbst
mord. Warum tun Sie uns beiden nicht einen Gefallen und verschwinden? Ich hab echt keine Lust auf eine Moralpredigt.»
«Sie haben sie rausgeschmissen.»
«Und deshalb ist es meine Schuld, wenn sie von der Brücke springt?» Hinter seiner Aggression lauert etwas Defensives. «Was geht Sie das überhaupt an? Ich kann mich nicht erinnern, dass Sie so besorgt um sie waren, als Sie sie verlassen haben. Wenn Sie jemandem die Schuld geben wollen, schauen Sie in einen verfluchten Spiegel!»
«Wussten Sie, dass sie eine Abtreibung hatte?»
Darauf antwortet er mit Schweigen. Meine Augen haben sich genügend an die Dunkelheit gewöhnt, und ich sehe, wie er mit den Schultern zuckt. «Ja und?»
«Sie sagte, es war Ihr Kind.»
«Echt? Dann hätte sie wohl besser aufpassen müssen. Wenigstens hatte sie so viel Verstand, es loszuwerden.» Die Abgebrühtheit klingt gezwungen, aber sie macht schnell der Wut Platz. «Und Sie wollen wissen, warum ich sie rausgeworfen habe? Weil sie eine verfluchte Belastung wurde. Sie war eine Enttäuschung! Sie wollen also, dass ich traurig bin, weil so eine Koksnase sich nicht zusammenreißen konnte?»
«Und wer hat das aus ihr gemacht?»
Dieses Mal ist sein Schweigen bedrohlich. «Sie passen lieber auf, was Sie sagen.»
«Sie haben sie erst angefixt und dann fallen lassen, als sie nicht mehr nach
Weitere Kostenlose Bücher