Der Hof (German Edition)
Fahrerkabine eines Lastwagens.
Zitternd blicke ich zum Ufer des Sees. Es ist zu weich und schlammig, um ein Fahrzeug direkt ins Wasser zu lenken. Nein, die einzige Möglichkeit, wie der Lastwagen hierhergelangt sein konnte, war, dass jemand ihn mit Absicht hier reingesteuert hat.
Ich will dringend zurück ans Ufer und mich anziehen. Aber das geht jetzt nicht. Noch nicht. Ich atme tief ein und tauche. Das Wasser bohrt sich wie Eiszapfen in meine Ohren. Alles ist verschwommen und dunkel, und ich sehe absolut nichts. Aber dann kommt der Mond hinter einer Wolke hervor, und plötzlich dringt das Licht wie aus einer anderen Welt hinab zum Grund des Sees. Vor meinen Augen erwacht der große Klotz von einem Lastwagen zum Leben. Ich erkenne jetzt, dass es ein Pick-up ist. Die offene Ladefläche ist leer. Ich tauche tiefer, bis in meiner Brust ein schmerzlicher Druck entsteht. Das kommt von den vielen Zigaretten. Ich kämpfe gegen den Auftrieb meines Körpers, greife nach dem Türgriff und bin kurz davor loszulassen, als die Fahrertür wie in Zeitlupe aufschwingt.
Mein Herz trommelt wie verrückt, während ich mich näher schiebe. Das Innere der Fahrerkabine ist dunstig und voller Schatten. Ich schaue noch zwei, drei Herzschläge lang ins Innere, und dann schiebt sich die nächste Wolke vor den Mond und verdunkelt alles. Ich lasse die Tür los und schieße an die Oberfläche. Keuchend durchbreche ich die Wasseroberfläche und atme in tiefen Zügen die Nachtluft. Das Pochen in meinen Schläfen lässt langsam nach.
Nichts.
Das brackige Wasser erschwert die Erkundung, aber ich habe im Innern der Kabine nichts gesehen. Keinen bulligen Schatten, kein langsames Winken von Gliedmaßen. Kurz überlege ich, noch einmal zu tauchen, um sicherzugehen, aber bei dem Gedanken rinnt ein Schauer über meinen Körper. Ich schaffe es nicht, ein zweites Mal unter Wasser zu gehen.
Mit klappernden Zähnen schwimme ich zurück. Ich zwinge mich, langsam zu machen und mich nicht zu sehr zu hetzen. Dann streift ein Stück Algen oder ein Zweig meinen Fußknöchel, und es ist um meine Zurückhaltung geschehen. Ich werfe mich Richtung Ufer und platsche durch das seichte Gewässer, bis ich wieder am Kiesstrand bin. Zitternd reibe ich meine Arme und starre zurück zum See. Die Wellen, die ich im Kielwasser über den See gezogen habe, sind fort. Schon liegt der See wieder still und schwarz da. Nichts deutet auf das hin, was unter der Wasseroberfläche verborgen liegt.
Ich beginne, meine Klamotten anzuziehen. Für mich besteht kein Zweifel, wem der Pick-up gehört. Die Farbe konnte ich unmöglich erkennen, aber wenn ich raten sollte, würde ich auf dunkelgrün tippen. Dieselbe Farbe also wie auf dem Foto, das Jean-Claude mir gezeigt hat. Louis wurde zuletzt in Lyon gesehen, weshalb ich davon ausgegangen war, was auch immer mit ihm passiert ist, müsste dort passiert sein. Aber ich habe mich geirrt.
Er ist zurückgekommen.
Ich kämpfe mit meiner Jeans, die sich nur schwer über die nasse Haut ziehen lässt. Sosehr ich mir auch den Kopf zerbreche, mir fällt keine plausible Erklärung dafür ein, warum sein Pick-up im See gelandet ist. Jean-Claude hat versucht, mich zu überzeugen, dass Arnaud für das Verschwinden seines Bruders verantwortlich ist, aber ich habe ihm nicht zuhören wollen. Ich konnte einfach nicht glauben, dass Mathilde darüber Bescheid weiß, aber ich habe auch nicht vor, nur eine Sekunde länger als nötig zu bleiben und es herauszufinden. Arnaud ist jetzt schon wütend auf mich, und der Hof verbirgt mindestens ein Geheimnis.
Ich habe keine Lust, das nächste Geheimnis zu werden.
Der Wald wirkt bedrohlich und scheint mich zu beobachten, als ich die Füße in die Stiefel zwänge. Ständig schaue ich mich um, als erwarte ich, dass Arnaud mit dem Gewehr in der Hand aus den Schatten auftaucht. Aber bis auf eine einsame Statue zwischen den Bäumen bin ich allein. Ich bücke mich und will den zweiten Stiefel anziehen, als mir einfällt, dass so dicht am See ja gar keine Statuen stehen. Und im selben Moment tritt sie aus dem Wald.
Gretchen ist im Mondlicht weiß wie Alabaster, die Haut so bleich wie Stein. Sie starrt mich an, kommt aber nicht näher.
«Ich war auf dem Dachboden und Sie nicht.»
Ich finde meine Stimme wieder. «Nein, ich … brauchte wohl frische Luft.»
«Ich habe Ihren Rucksack gesehen. Sie haben alles eingepackt.»
Ich weiß nicht, was ich darauf erwidern soll. Gretchen schaut aufs Wasser hinaus. Ihre Wut hat
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