Der Hof (German Edition)
bringe dir später heißes Wasser, damit du dich waschen kannst. Möchtest du gerne etwas lesen? Ich kann dir ein paar Bücher mitbringen, wenn du magst.»
Ich bin zu unruhig, um zu lesen. «Nein danke. Wie lange dauert es noch, bis ich hier rausdarf?»
«Das kommt ganz darauf an, wie schnell du dich wieder in der Lage fühlst zu laufen.» Mathilde schaut sich um und zeigt dann auf den Sperrmüll, der an den Wänden aufgereiht steht. «Irgendwo sollte hier noch ein Paar Krücken stehen. Ich kann später versuchen, sie für dich zu finden.»
«Wem gehörten die?», frage ich. Plötzlich habe ich Sorge, nicht der Erste zu sein, der hier oben versorgt wurde.
«Meiner Mutter.»
Sie nimmt das Tablett und geht zur Falltür. Ich schaue zu, wie sie durch die Luke verschwindet, und erwarte eigentlich von ihr, dass sie die Falltür hinter sich schließt. Aber dieses Mal lässt sie sie offen.
Das Frühstück ist heute etwas reichhaltiger. Es gibt weichgekochte Eier, dazu Butter und schwarzen Pfeffer. Ein Stück Brot, ein Glas Milch. Ich bin ausgehungert, aber ich esse bedächtig und will diese Mahlzeit auskosten. Als ich fertig bin, schaue ich auf die Uhr. Seit ich das letzte Mal geschaut habe, ist kaum Zeit vergangen. Der Dachboden heizt sich schon wieder auf und riecht harzig nach warmem Holz und Staub. Ich schwitze auch schon wieder. Die Stoppeln an meinem Kinn, die inzwischen mehrere Tage alt sind, haben begonnen zu kratzen, und ich bin mir bewusst, dass ich rieche – leicht ranzig nach Krankheit und Hitze. Ich fahre mit der Zunge über meine Zähne und bin mir auch bewusst, wie übel mein Mund schmeckt. Ich brauchte gestern Abend gar keine Weinflasche als Waffe; mein Atem hätte
Papa
einfacher außer Gefecht setzen können.
Ich nehme meine Zahnbürste und die Zahnpasta aus meinem Rucksack und schrubbe meine Zähne, bis das Zahnfleisch weh tut. Nachdem das erledigt ist, lege ich mich wieder aufs Bett. Aber ich bin zu überreizt, um Schlaf zu finden. Und weil es sonst nichts gibt, das meinen Verstand beansprucht, beginnen meine Gedanken umherzustreifen. Schließlich stütze ich mich mit einer Hand an der Wand ab und hüpfe zu dem Durcheinander aus alten Möbeln hinüber, um die Krücken zu suchen. Mathilde sagte, sie könne sie für mich suchen, aber ich sehe keinen Grund, darauf zu warten. Die Sachen hier oben sind entweder beschädigt oder unvollständig, und alles ist mit einer grauen Staubschicht überzogen. Es gibt dreibeinige Stühle und schimmelige Koffer, Kommoden mit fehlenden Schubladen, die Löcher sehen wie Zahnlücken aus. Hinter einen Sekretär ohne Aufsatz wurde ein Dutzend alter verschnörkelter Bilderrahmen gestopft, die weder eine Leinwand noch Glas haben. Ohne darüber nachzudenken, beginne ich, die Bilderrahmen genauer anzuschauen. Erst dann fällt mir ein, dass ja niemand mehr da ist, der dafür Verwendung haben könnte. Diese Erkenntnis lässt die Schuldgefühle dumpf aufbranden.
Ich schiebe die Bilderrahmen zurück und mache mich wieder auf die Suche nach den Krücken.
Unter einem Gewirr kaputter Stühle begraben finde ich eine. Doch vom Zwilling keine Spur. Eine ist aber besser als keine. Die Krücke ist aus verschrammtem und verbeultem Aluminium. Nachdem ich sie von den Spinnweben befreit und die Größe angepasst habe, übe ich, auf dem Dachboden auf und ab zu stampfen. Die Anstrengung ermüdet mich schon bald, aber es fühlt sich gut an, endlich wieder mobil zu sein.
Verschwitzt und außer Atem bringe ich meine Beute zurück zur Matratze. Aber sobald ich wieder liege, kreisen meine Gedanken erneut. Ich brauche Ablenkung. Der Großteil meiner Musiksammlung war auf meinem Handy, aber ich habe im Rucksack noch meinen alten MP 3 -Player mit einer feinen Auswahl älterer Musiktitel, die Batterien sind zum Glück noch nicht leer. Ich schiebe die Ohrhörer in die Ohren, drücke auf Shuffle und schließe die Augen, während die Musik meinen Kopf umhüllt.
Ich weiß nicht, ob es eine Änderung der Luft ist, die meine nackte Haut berührt, oder eine Bewegung im Gegenlicht vor dem Fenster. Ich merke jedenfalls, dass außer mir noch jemand im Raum ist. Im selben Moment stößt jemand gegen die Matratze, und ich fahre hoch. Jemand steht direkt über mir.
«Himmel!»
Gretchen zuckt zusammen und lässt fast den Eimer fallen, den sie trägt. Sie stellt ihn hastig ab, und ich schalte die Musik aus und nehme die Ohrhörer heraus. Die plötzliche Stille ist so grell wie die Lichter, die im Kino in
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