Der Holcroft-Vertrag - Ludlum, R: Holcroft-Vertrag
plötzlich hinzu und blickte zurück auf die Polizisten und die Menschenmenge. Der Berliner drehte sich um. Noel trat vom Randstein auf die Straße. Er setzte sich in Bewegung, langsam zuerst, bis er eine Lücke im Verkehrsstrom fand und auf die andere Straßenseite hinüber konnte. Dort machte er kehrt und lief, so schnell er konnte, zum Kurfürstendamm.
Er hatte es geschafft, dachte Holcroft, als er ohne Hut und Mantel auf einer verlassenen Bank in Sichtweite der Gedächtniskirche saß und vor Kälte zitterte. Er hatte seine Lektionen gelernt und sie genutzt; er hatte seine eigenen Variationen erfunden und war der Falle entkommen, die er dem anderen gestellt hatte, die dann aber beinahe über ihm selbst zugeschnappt wäre. Darüber hinaus hatte er den Mann in der schwarzen Lederjacke ausgeschaltet. Man würde ihn festhalten, und sei es nur, um einen Arzt zu holen.
Jedenfalls hatte er erfahren, daß Helden unrecht hatte. Und der tote Manfredi – der die Namen nicht mehr nennen würde - hatte unrecht gehabt. Es waren nicht Mitglieder der ODESSA und auch nicht der RACHE, die als die mächtigsten Feinde
Genfs zu gelten hatten. Es war eine andere Gruppe, eine, die um ein Vielfaches mehr wußte und gefährlicher war. Eine geheimnisvolle Organisation, in deren Reihen es Männer gab, die ruhig sterben würden, Männer mit Intelligenz hinter ihren Augen, Männer, deren Worte Sinn und Inhalt hatten.
Das Rennen nach Genf wurde jetzt gegen drei gewalttätige Mächte gelaufen, die den Vertrag zunichte machen wollten, aber eine dieser Mächte war wesentlich raffinierter als die zwei anderen. Der Mann in der schwarzen Lederjacke hatte von der RACHE und der ODESSA so geringschätzig gesprochen, daß seine Worte weder dem Neid noch der Furcht entspringen konnten. Er hatte sie einfach als unfähige Schlächter und Clowns abgetan, mit denen er nichts zu tun haben wollte. Weil er nämlich einer völlig anderen Organisation angehörte, einer, die weit überlegen war.
Holcroft sah auf die Uhr. Er saß jetzt bald eine Stunde in der Kälte. Sein Unterleib schmerzte immer noch, und sein Schädel drohte zu bersten. Ein paar Straßen weiter unten hatte er den Dufflecoat und die schwarze Schirmmütze in eine Mülltonne gestopft. Sie wären zu leicht zu entdecken gewesen, falls die Berliner Polizei ihn etwa suchte.
Inzwischen war es Zeit geworden für seine Verabredung mit Kessler; von der Polizei war weit und breit nichts zu sehen, überhaupt schien sich niemand für ihn zu interessieren. Die kalte Luft hatte seine Schmerzen nicht gerade gelindert, ihm aber immerhin zu einem klaren Kopf verholfen. Und solange das nicht der Fall gewesen war, hatte er nicht gewagt, sich zu bewegen. Jetzt konnte er das tun; das mußte er sogar. Es war beinahe neun Uhr, Zeit, sich mit Erich Kessler zu treffen. Dem dritten Schlüssel für Genf.
25.
Die Gaststätte war jetzt überfüllt, so wie er das erwartet hatte, die Rauchschwaden dichter, die Musik lauter. Der Geschäftsführer begrüßte ihn freundlich, aber seine Augen verrieten seine Gedanken. Etwas war in der letzten Stunde mit diesem
Amerikaner geschehen. Noel war verlegen; ob das Kratzer in seinem Gesicht waren, oder Schmutzspuren?
»Ich würde mich gerne waschen. Ich bin gestürzt.«
»Natürlich. Dort drüben, Sir.« Der Geschäftsführer wies zur Herrentoilette. »Professor Kessler ist schon da. Er erwartet Sie. Ich habe ihm Ihren Aktenkoffer gegeben.«
»Nochmals vielen Dank«, sagte Holcroft und ging auf die Toilettentür zu.
Er sah sich im Spiegel an. Da waren keine Flecken, kein Schmutz, kein Blut. Aber da war etwas in seinen Augen, ein Blick, wie man ihn mit Schmerz in Verbindung bringt, mit Schock und Erschöpfung. Und Angst. Das war es, was der Geschäftsführer gesehen hatte.
Er ließ Wasser ins Becken laufen, bis es lauwarm war, wusch sich das Gesicht, kämmte sich und wünschte, er könnte diesen Blick aus seinen Augen verdrängen. Dann ging er zu dem Geschäftsführer zurück, der ihn zu einer Nische im hinteren Teil führte, abseits von der Betriebsamkeit des Saales. Der rotkarierte Vorhang war vorgezogen.
»Herr Professor?«
Der Vorhang wurde beiseite geschoben, so daß Noel jetzt einen Mann Mitte der Vierzig, von beträchtlicher Leibesfülle und mit einem vollen Gesicht sehen konnte, das ein kurzer Bart und dichtes braunes, glatt nach hinten gekämmtes Haar säumten. Es war ein freundliches Gesicht, und die tiefliegenden Augen wirkten lebendig, erwartungsvoll, ja
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