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Der Horizont: Roman (German Edition)

Der Horizont: Roman (German Edition)

Titel: Der Horizont: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patrick Modiano
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allzusehr darauf zu verlassen. Bagherian rief immer abends gegen sieben an. Ob sie sich im Hôtel Sévigné wohl fühle? Nein, sie war noch nicht zur Bank gegangen. Aber sie besaß noch genug Geld. Sie hatte keine Lust, Bagherian um das Zeugnis für die Agentur Stewart zu bitten. »Hiermit bestätige ich, Michel Bagherian, dass Mademoiselle Margaret Le Coz ihre Aufgaben zu meiner vollen Zufriedenheit …« Irgendetwas störte sie daran und stimmte sie sogar traurig. Gewiss hatte er ähnliche Zeugnisse für andere »Gouvernanten« geschrieben. Wer weiß? In einem Notizbuch hatte er eine Liste aller »Gouvernanten« angelegt, mit denen er geschlafen hatte, und ihr Name stand ganz unten auf der Seite. Sie ärgerte sich, weil ihr solche Gedanken kamen. Das war bestimmt ungerecht diesem Typen gegenüber, der ihr einen Gefallen tun wollte. So wenig Leute sind bereit, einem zu helfen, einen anzuhören oder, noch besser, einen zu verstehen … Am Telefon antwortete sie mit Ja oder Nein, sie wusste nicht, was sie ihm sagen sollte. Außerdem klang seine Stimme immer ferner, überlagert von Geknister. Vielleicht war er nicht mehr in der Schweiz und rief sie aus Brasilien an, wo er mit seinen Kindern hinwollte. Sie hatte nicht einmal gefragt, für wann die Abreise geplant war oder ob er die Schweiz schon verlassen hatte. Und er hatte nichts gesagt. Er glaubte wahrscheinlich, es interessiere sie nicht, wegen ihrer Reserviertheit am Telefon. Ob er nun in der Schweiz war oder in Brasilien, irgendwann würde er der Sache überdrüssig sein und nicht mehr anrufen. Und das wäre sehr gut so.
    Sie war zwanzig geworden zu Beginn des Monats. An diesem Tag hatte sie auch Bagherian nichts davon gesagt. Sie war es nicht gewohnt, dass man ihre Geburtstage feierte. Das setzt eine Familie voraus, treue Freunde, einen Weg, der gesäumt ist von Kilometersteinen und an dessen Rand man sich Pausen erlauben kann, bevor man seinen Gang mit gleichmäßigem Schritt fortsetzt. Sie dagegen bewegte sich im Leben mit wilden Sprüngen vorwärts, mit Brüchen, und fing jedesmal wieder bei Null an. Was also sollten die Geburtstage … Ihr war, als habe sie schon mehrere Leben gelebt.
    Und dennoch erinnerte sie sich an ihren zwanzigsten Geburtstag. Am Vortag hatte ihr Bagherian seinen Wagen überlassen, damit sie die beiden Kinder zurückfahren konnte in die École Mérimont, etwa zehn Kilometer entfernt, an der Straße nach Montreux. Die Kinder verbrachten dort drei Tage in der Woche, und sie hatte Mühe, sich vorzustellen, dass dieses von einem großen Park umgebene Chalet eine Schule war. Obwohl sie die Klassenräume besichtigt hatte und den kleinen Speisesaal im Erdgeschoss. Sie holte die Kinder am Mittwochabend und brachte sie montags wieder in die Schule. Bagherian hatte ihr gesagt, es sei besser für die beiden, ein paar Tage mit Jungen und Mädchen ihres Alters zu verbringen, als immer nur mit ihrem Vater zusammen zu sein. Im Grunde war sie bloß für eine Teilzeitarbeit eingestellt worden. Gab es auch eine Madame Bagherian? Margaret Le Coz hatte gespürt, dass sie dieses Thema besser nicht anschneiden sollte. War sie gestorben oder hatte sie den gemeinsamen Haushalt verlassen?
    Auf dem Heimweg fuhr sie die Avenue d’Ouchy hinunter. Sie hielt vor der roten Ampel an der Kreuzung, da, wo rechter Hand das Hôtel Royal-Savoy mit seinen mittelalterlichen Türmchen aufragt, das sie jedesmal an Schneewittchen und die sieben Zwerge denken ließ. Sie zuckte zusammen. Da stand Boyaval, auf dem Trottoir, und schickte sich an, die Straße zu überqueren. Sie wollte ihr Gesicht abwenden, doch sie konnte den Blick nicht losreißen von diesem Mann, der einen anliegenden schwarzen Mantel trug. Sie versuchte, einen kühlen Kopf zu bewahren: im Auto war sie in Sicherheit. Aber sie sagte sich, wenn sie ihn noch länger anstarrte, würde sie seine Aufmerksamkeit erregen. Und tatsächlich, als er die Straße überquerte und am Auto vorbeiging, sah er sie. Sein Mund verzog sich zu einem überraschten Lächeln. Sie tat, als erkenne sie ihn nicht. Er stand vor dem Auto, und sie wartete ungeduldig darauf, dass die Ampel endlich grün würde. Immer noch das gleiche hagere Gesicht mit den pockennarbigen Wangen, das schwarze Haar im langen Bürstenschnitt, die harten grauen Augen, der Körper eingezwängt in zu enge Kleider. Seit sie in der Schweiz war, hatte sie ihn vergessen, und jetzt, wo er hier stand, ganz nah vor ihr, fand sie ihn noch beunruhigender. Sie hätte

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