Der Horizont: Roman (German Edition)
gesagt: abstoßender. Mit dem Leichtsinn der Jugend glaubt man, billig davonzukommen und einem alten Fluch entronnen zu sein, bloß weil man ein paar Wochen voller Ruhe und Sorglosigkeit in einem neutralen Land verlebt hat, am Ufer eines sonnigen Sees. Doch schnell wird man wieder zur Ordnung gerufen. Nein, man kommt nicht so leicht davon. Als die Ampel umschaltete, hätte sie ihn ohne den kleinsten Gewissensbiss überfahren, wäre sie sicher gewesen, straffrei auszugehen. Er hatte sich dem Wagen genähert und schlug mit der Faust auf die Motorhaube. Er beugte sich vor, als wollte er sein Gesicht an das Seitenfenster pressen. Das Lächeln war nur mehr ein verzerrtes Grinsen. Sie erstickte. Sie trat aufs Gaspedal. Ein Stück weiter kurbelte sie das Fenster herunter, um in der freien Luft zu atmen. Sie spürte eine leichte Übelkeit. Sie bog nicht links in den Chemin de Beaurivage, sondern fuhr geradeaus weiter. Sie fühlte sich besser, als sie den See erreichte. Auf dem breiten Trottoir der Promenade spazierten Touristen, die gerade aus einem Bus gestiegen waren, friedlich in Gruppen. Der Mann, der sie offenbar führte, zeigte ihnen am jenseitigen Ufer Frankreich. Während der ersten Tage schaute auch sie, auf der Terrasse von Bagherians Wohnung, hinüber zur anderen Seite des Sees und dachte, dass Boyaval gar nicht so weit entfernt war, höchstens hundert Kilometer. Sie stellte sich vor, dass er ihre Spur wiederfand und eines der Schiffe nahm, die zwischen Évian und Lausanne hin und her pendelten. Auch sie hatte überlegt, ob sie auf einem dieser Schiffe in die Schweiz fahren sollte. Sie sagte sich, auf diese Weise käme sie leichter über die Grenze. Und außerdem, gab es überhaupt eine Grenze auf diesem See? Warum hatte sie Angst, man könnte sie an der Grenze aufhalten? Und dann war sie in einer Anwandlung von Ungeduld am Bahnhof von Annecy in den Bus gestiegen. So würde es schneller gehen. Die Sache sollte ein für allemal erledigt sein.
Sie drehte um, fuhr die Avenue d’Ouchy zurück und parkte den Wagen in der Allee, anstatt ihn in die Garage zu stellen. Als sie das Haustor aufstieß, bedauerte sie, keinen Schlüssel zu haben und nicht hinter sich absperren zu können. Sie war allein in der Wohnung. Bagherian würde erst abends gegen fünf aus seinem Büro kommen.
Sie setzte sich auf das Kanapee im Salon. Würde sie die Geduld haben, auf ihn zu warten? Panik ergriff sie bei dem Gedanken, dass Boyaval vielleicht ihre Adresse kannte. Nein, nein, er war aus einem anderen Grund hier. Woher sollte er wissen, dass sie sich in der Schweiz aufhielt? Es sei denn, jemand hätte im April in Annecy zufällig das Gespräch mit angehört, das sie in der Halle des Hôtel d’Angleterre mit diesem etwa fünfunddreißigjährigen Brünetten geführt hatte, einem recht gut aussehenden Mann, der ihr erzählt hatte, er sei auf der Suche nach einem Mädchen, das sich um seine beiden Kinder kümmern sollte … Er hatte ihr seine Adresse und seine Telefonnummer gegeben für den Fall, dass es sie interessiere. Wahrscheinlich hatte er gar keine Kinder, sondern wollte bloß den Abend oder die Nacht mit ihr verbringen. Doch er hatte nicht weiter gedrängt, als sie ihm gesagt hatte, sie habe eine Verabredung. Der Concierge war sie holen gekommen und hatte sie in ein Büro geführt, wo man ihr erklärt hatte, nein, es gebe keine Arbeit für sie im Hôtel d’Angleterre. Sie war in die Halle zurückgekehrt, aber der Typ war nicht mehr da. Auf dem Zettel hatte er notiert: Michel Bagherian. 5 Chemin de Beaurivage. Lausanne. Tel. 320.12.51.
Eine der Fenstertüren des Salons war halb geöffnet. Sie schlüpfte auf den Balkon und lehnte sich an das Geländer. Unten lag der Chemin de Beaurivage, eine kleine Straße, die zum Hotel gleichen Namens führte, verlassen da. Sie hatte den Wagen genau vor dem Haus geparkt. Es war möglich, dass er ihn wiedererkannte, und vielleicht hatte er sich die Autonummer gemerkt. Alles war ruhig, das Trottoir sonnenbeschienen, man hörte die Blätter der Bäume leise rauschen. Der Gegensatz war so groß zwischen dieser friedlichen Straße und der Gestalt von Boyaval, dem zu engen schwarzen Mantel, dem Gesicht mit der pockennarbigen Haut, den großen Pranken an diesem viel zu mageren Körper … Nein, in dieser Straße hatte er nichts verloren. Vorhin war sie einer Halluzination zum Opfer gefallen, wie in jenen bösen Träumen, in denen die Ängste der Kindheit einen von neuem quälen. Wieder der
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