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Der Horizont: Roman (German Edition)

Der Horizont: Roman (German Edition)

Titel: Der Horizont: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patrick Modiano
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ans Telefon. Sie erinnerte sich an ihre Erleichterung, als sie endlich seine Stimme gehört und er ihr vorgeschlagen hatte, gleich am nächsten Tag zu kommen. Ein schöner Nachmittag, einer der ersten Frühlingstage. Im Bus, an der Haltestelle vor dem kleinen Bahnhofsgebäude, war sie auf dem Quivive, sie hatte Angst, Boyaval könnte plötzlich erscheinen und sie auf der Sitzbank, hinterm Fenster, entdecken. Er würde einsteigen, er war imstande, sie hinauszuzerren, und der Chauffeur, der bereits hinterm Lenkrad saß, würde keinen Finger für sie rühren. Auch keiner der wenigen Fahrgäste, die nur betreten dreinschauen würden. Zwei Worte gingen ihr durch den Kopf: Unterlassene Hilfeleistung.
    Der Bus fuhr los, sie war gerettet. Langsam rollte er durch die Avenue de Brogny, in der Sonne, vorbei am Lycée Berthollet und an der Kaserne, und ihr Glück wurde nur durch eine leichte Sorge getrübt: der Pass, den sie in eine der Taschen ihres Regenmantels gesteckt hatte, war seit einem Jahr abgelaufen. Doch ob man sie an der Grenze aufhalten würde oder nicht, war völlig egal. Sie war entschlossen, auf keinen Fall umzukehren.
    Auch an diesem Nachmittag war es schön. Große Sonnenflecken an den Wänden im Salon. Sie wäre gern aus dem Haus gegangen und am Seeufer bis zum Park spaziert, während sie auf Bagherians Rückkehr wartete. Ein Frühlingsnachmittag, an dem einem das Leben leichtfallen sollte. Man musste sich nur seiner angeborenen Unbekümmertheit hingeben, wie sie es häufig tat. Neben den Parkwegen hatten verschiedene Schilder sie irritiert. Auf dem Sockel einer Skulptur, die eine Affengruppe darstellte, stand ein Gebot, dessen Sinn sie nicht wirklich begriff: »Nur mit einem Auge sehen. Nur mit einem Ohr hören. Schweigen können. Immer pünktlich sein.« Sie hatte es dennoch aufgeschrieben. Es konnte ja zu irgendwas nützen. Und am Rand jeder Grasfläche konnte man auf einer Tafel lesen: »Der junge Rasen darf nicht betreten werden.« Sie spazierte oft mit den Kindern im Park umher. Der Gedanke, dass Boyaval auf der Suche nach ihr durch die Avenue d’Ouchy strich, nahm ihr jede Lust aufs Hinausgehen. Ihr schien plötzlich, der See, der Park und die sonnenbeschienenen Straßen, wo sie sich in Sicherheit gewähnt hatte, seien verseucht durch die Gegenwart dieses Mannes. Es gab also Menschen, die man sich nicht ausgesucht hatte, von denen man nichts verlangte und die man nicht einmal bemerkt hätte, wären sie einem über den Weg gelaufen, und diese Menschen, ohne dass man wusste warum, wollten einen daran hindern, glücklich zu sein.
    Abends gegen fünf, als sie Bagherian die Allee entlangkommen sah, gewann sie ihre Ruhe zurück. Zum Glück war er nicht in Begleitung der »Sekretärin« oder der »Norwegerin«. Um von da oben, vom Stadtzentrum, hierherzugelangen, hatte er bestimmt die Metro genommen – die Zahnradbahn, wie sie wegen der Steigung gern sagte. Mit den Kindern fuhr sie oft Metro. Die Stationen hatten komische Namen, die sie auswendig wussten: Jordils. Montriond. Gare centrale. In ihrer Verwirrung rief sie ihn bei seinem Vornamen und winkte ihm zu. Er schaute hinauf zum Balkon und lächelte. Es schien ihn überhaupt nicht zu wundern, dass sie ihn bei seinem Vornamen gerufen hatte. Sie öffnete die Tür, noch bevor er auf dem Treppenabsatz war. Anstatt ihm wie üblich die Hand zu geben, legte sie diese Hand auf seine Schulter und kam mit ihrem Gesicht ganz nah an seines heran, ohne dass er die geringste Überraschung zeigte. Sie war erleichtert, als sie seine Lippen spürte. Das war noch immer die beste Art, Boyaval zu vergessen.
    Später saßen sie in einem Restaurant an einer jener abschüssigen Straßen, wo die ockergelben Häuser aussehen wie die an der Côte d’Azur. In der Abenddämmerung, nach einem schönen Tag, sagte sie sich oft, wenn sie mit dem Fahrrad eine dieser menschenleeren Straßen hinabrollen würde, käme sie an einen Strand. Sie erinnerte sich nicht mehr genau an alle Ereignisse dieses Abends. Sie hatte mehr als sonst getrunken. Nach dem Restaurant waren sie im Auto hinaufgefahren ins Stadtzentrum, zu seinem Büro, wo er etwas vergessen hatte. Die »Sekretärin« war da, trotz der späten Stunde sortierte sie auf dem Boden gestapelte Akten, wie für einen Umzug. Er hatte mehrere Telefonate geführt, und sie verstand bei keinem Gespräch, wovon er redete, wahrscheinlich war sie ein bisschen betrunken. Wer mochte am anderen Ende der Leitung sein? Nachdem die »Sekretärin«

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