Der Horizont: Roman (German Edition)
Schlafsaal im Internat oder in einer Erziehungsanstalt. Beim Erwachen löst alles sich auf, und man empfindet solche Erleichterung, dass man in Lachen ausbricht.
Aber hier, in diesem Salon, war ihr nicht zum Lachen zumute. Sie würde ihn niemals loswerden. Ihr ganzes Leben würde ihr dieser Kerl mit der pockennarbigen Haut und den riesigen Händen auf der Straße folgen und Wache stehen vor jedem Haus, das sie betrat. Und es nützte auch nichts, dass diese Häuser einen zweiten Ausgang hatten … Nein, es war eine Lage ohne Zukunft. Er würde sie irgendwann umbringen. In Annecy, unter den Stammgästen des Café de la Gare, hieß es, er habe mit achtzehn einen Revolver in einem grauen Wildlederetui bei sich getragen. Eine Angeberei, nach Meinung seiner ehemaligen Freunde, zusammen mit dem um den Hals geschlungenen Seidenschal und der zu kurzen Fliegerjacke. Oder sie würde ihn umbringen, so wie man einen Kakerlak zerquetscht, in der Hoffnung auf mildernde Umstände. Es war idiotisch, sie steigerte sich da in etwas hinein. Plötzlich wollte sie mit Bagherian sprechen. Sie kannte die Telefonnummer seines Büros nicht. Warum sollte sie nicht gleich zu ihm fahren, hinauf in die Rue du Grand-Chêne? Aber vielleicht war er auswärts essen gegangen. Sie fürchtete, im Stadtzentrum wieder Boyaval zu begegnen. Am besten war es, hier zu warten.
Sie hatte beschlossen, Bagherian alles zu erzählen. Sie hatte keine Wahl, sie musste ihn warnen. Der andere konnte gewalttätig werden. Sie ging im Salon auf und ab und versuchte die richtigen Worte zu finden. Wie sollte sie ihm erklären, dass zwischen ihr und diesem Typen nichts war? Sie hatte ihn stets mit Herablassung und Gleichgültigkeit behandelt. Und trotzdem blieb er hartnäckig, als könnte er Ansprüche an sie stellen. Eines Abends, als er ihr in der Rue Royale in Annecy gefolgt war, hatte sie sich umgedreht, um ihm ins Gesicht zu schauen, und barsch gefragt, warum er sie nicht zufriedenließ. Er hatte ein dümmliches Lächeln angedeutet, das wahrscheinlich ein Tick war. Aber der Blick war hart geblieben, als hege er ihr gegenüber heimlichen Groll.
Wieder beugte sie sich über den Balkon. Niemand auf der Straße. Sie konnte es kaum erwarten, dass Bagherian nach Hause kam. Noch eine ganze Stunde. Sie hoffte inständig, er würde allein sein und nicht in Begleitung dieser Frau, die sie nur die »Sekretärin« nannte, oder der anderen, der sie auch einen Spitznamen gegeben hatte: die »Norwegerin«. Offenbar verbrachte die »Norwegerin« am häufigsten die Nacht mit Bagherian. War sie wirklich Norwegerin? Sie hatte einen leichten skandinavischen Akzent. Die andere, die »Sekretärin«, eine Brünette mit kurzem Haar, war sehr abweisend und redete kaum mit ihr. Ja, alles würde besser, sobald Bagherian zurück war. Sie war in der gleichen Verfassung wie an jenem Tag, als sie ihm in Annecy begegnet war, in der Halle des Hôtel d’Angleterre. Nachdem man ihr gesagt hatte, sie bekomme keine Arbeit im Hotel, fühlte sie sich ganz verzagt. In der Rue Royale regnete es, doch sie wollte sich nicht einmal unterstellen. Ihre einzige Aussicht war, Boyaval über den Weg zu laufen, der ihr folgen und vorschlagen würde, ein Glas in der Taverne zu trinken, und dabei würde er sie mit seinem harten Blick mustern. Sie würde ablehnen wie gewöhnlich, und er würde ihr weiter nachlaufen, durch die Rue d’Albigny und entlang der Mauern des Haras National. Er würde vor dem Haus Stellung beziehen und warten, dass sie wieder herauskäme. Nach einer Stunde würde er aufgeben. Von ihrem Fenster würde sie die Gestalt in der zu kurzen Lederjacke im Regen abmarschieren sehen. An diesem Spätnachmittag aber ließ Boyaval sich nicht blicken. Unter den Arkaden angekommen, zog sie aus der Tasche ihres Regenmantels den Zettel, auf den ihr vorhin der Brünette seine Adresse geschrieben hatte. Am liebsten hätte sie ihn sofort angerufen, doch sie überlegte, dass sie wenigstens bis zum nächsten Tag warten musste, wenn er wieder zu Hause war, in Lausanne. Warum bis zum nächsten Tag warten? Sie konnte zurückgehen. Vielleicht hatte er das Hôtel d’Angleterre noch gar nicht verlassen. Ja, dieser Typ war ihre einzige Hoffnung. Und jetzt, im Salon der Wohnung, spürte sie die gleiche Ungeduld. Von Zeit zu Zeit ging sie hinaus auf den Balkon, und die Avenue d’Ouchy fest im Auge, hoffte sie, Bagherian auftauchen zu sehen. In Annecy hatte sie zwei Tage lang die Nummer 320.12.51 angerufen. Niemand ging
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