Der Horizont: Roman (German Edition)
in seinem Leben atmete er eine leichte Luft. Es war noch hell, wenn er die Éditions du Sablier verließ. Ein Nachsommer, bei dem man sich sagte, er würde noch Monate andauern. Für immer vielleicht.
Bevor er zu Simone Cordier hinaufschaute, ging er in ein Café nebenan, Ecke Rue La Pérouse, um die Seiten, die er ihr geben wollte, zu korrigieren, vor allem die unleserlichen Wörter. Simone Cordiers Typoskript war übersät mit seltsamen Zeichen: durchgestrichene Os, zwei Punkte anstelle eines Zirkumflexes, Häkchen unter bestimmten Vokalen, und Bosmans fragte sich, ob das von einer slawischen oder skandinavischen Schreibung herstammte. Oder ganz einfach von einer fremdländischen Maschine, die Tasten mit in Frankreich unbekannten Buchstaben hatte. Er wagte nicht, sie danach zu fragen. Es war ihm lieber, alles so zu belassen. Er sagte sich, solche Zeichen müsste man beibehalten, sollte er das Glück haben, gedruckt zu werden. Es entsprach dem Text und verlieh ihm jenen exotischen Hauch, den er brauchte. Wenn er versuchte, sich in reinstem Französisch auszudrücken, war im Grunde genommen auch er, ganz so wie Simone Cordiers Schreibmaschine, fremder Herkunft.
Und wenn er von ihr kam, machte er wieder Korrekturen im Café, diesmal auf den maschinegeschriebenen Seiten. Er hatte den ganzen Abend vor sich. Es war ihm lieber, in diesem Viertel zu bleiben. Er hatte das Gefühl, an einem Kreuzungspunkt seines Lebens anzulangen, oder vielmehr an einem Saum, von wo er sich aufschwingen könnte in die Zukunft. Zum ersten Mal hatte er im Kopf das Wort: Zukunft, und ein anderes Wort: der Horizont. An jenen Abenden waren die stillen und menschenleeren Straßen Fluchtlinien, die alle hinführten auf die Zukunft und den horizont .
Er zögerte, wieder die Metro zu nehmen und den umgekehrten Weg bis ins vierzehnte Arrondissement und sein Zimmer zu fahren. Das alles, das war sein altes Leben, ein alter Lumpen, den er von heute auf morgen abstreifen würde, ein Paar ausgetretene Latschen. In der Rue La Pérouse, wo alle Häuser verlassen schienen – nein, er sah ein Licht, ganz oben, ein Fenster im fünften Stock, vielleicht wartete dort schon lange jemand auf ihn –, fühlte er, wie sein Erinnerungsvermögen schwand. Er hatte schon alles aus seiner Kindheit und frühen Jugend vergessen. Plötzlich war er befreit von einer Last.
Etwa zwanzig Jahre später war er zufällig wieder ins selbe Viertel gekommen. Vom Trottoir winkte er den vorbeifahrenden Taxis, aber keines war frei. Also hatte er beschlossen, zu Fuß zu gehen. Die Wohnung von Simone Cordier war ihm eingefallen, die maschinegeschriebenen Seiten mit ihren zwei Punkten und ihren Häkchen.
Er fragte sich, ob Simone Cordier gestorben war. Dann hatte man nicht einmal Möbelpacker gebraucht für die leere Wohnung. Vielleicht waren hinter der Bar die handgeschriebenen Seiten gefunden worden, die er ihr einst anvertraut hatte.
Er bog in die Rue de Belloy. Es war Abend, die gleiche Stunde wie damals, wenn er aus der Metro kam, und die gleiche Jahreszeit, als spaziere er durch den gleichen Nachsommer.
Er war vor dem Eingang des Hôtel Sévigné angelangt, das sich in einem der ersten Gebäude dieser Straße befand, unmittelbar vor dem Haus von Simone Cordier. Die Glastür stand offen, ein kleiner Lüster strahlte weißes Licht in den Flur. Damals im Herbst, wenn er die maschinegeschriebenen Seiten abholte, ging er jedesmal, so wie jetzt, an diesem Hotel vorbei. Eines Abends hatte er sich gesagt, er könnte hier ein Zimmer nehmen und nicht mehr zurückkehren ans andere Seineufer. Ein Ausdruck war ihm in den Sinn gekommen: die brücken abbrechen .
Warum bin ich Margaret damals nicht begegnet? Warum ein paar Monate später? Wir sind uns in dieser Straße bestimmt über den Weg gelaufen, oder sogar im Café an der Ecke, ohne einander zu sehen. Er stand reglos vor der Hoteltür. Seit all der Zeit hatte er sich treiben lassen von den täglichen Ereignissen eines Lebens, solchen, die uns zumeist nicht unterscheiden von unseresgleichen und die mit der Zeit in einer Art Nebel, einem gleichförmigen Strom verschwimmen, was man eben so den Lauf der Dinge nennt. Ihm war, als sei er plötzlich erwacht aus dieser Benommenheit. Er brauchte nur hineingehen, den Flur entlang bis zur Rezeption, und nach Margarets Zimmernummer fragen. Sicher gab es noch irgendwelche Schwingungen, ein Echo von ihrem kurzen Aufenthalt in diesem Hotel und den angrenzenden Straßen.
S ie war aus der Schweiz
Weitere Kostenlose Bücher