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Der Horizont: Roman (German Edition)

Der Horizont: Roman (German Edition)

Titel: Der Horizont: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patrick Modiano
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kommend abends gegen sieben an der Gare de Lyon eingetroffen. Sie ging bis zur Schlange der wartenden Taxis, mit dem Koffer aus Tuch und Leder, den Bagherian ihr geschenkt hatte. Als der Fahrer sie nach der Adresse fragte, sprach sie den Straßennamen falsch aus. Sie sagte: Rue Bellot. Der Fahrer kannte sie nicht. Er suchte auf seinem Plan. Es gab eine Rue Bellot, in der Nähe des Bassin de la Villette, aber Bagherian hatte ihr gesagt: »nicht weit von der Place de l’Étoile«. Zum Glück kam das Hôtel Sévigné dem Fahrer bekannt vor. Na sicher, Rue de Belloy.
    Man schickte sie in die oberste Etage, Zimmer 52. Am Vortag, in der Schweiz, hatte sie in Bagherians Wohnung eine schlaflose Nacht verbracht. Sie war zu müde, um ihren Koffer auszupacken. Sie legte sich angezogen aufs Bett und schlief ein.
    Beim Aufwachen, im Halbdunkel, hatte sie ein Schwindelgefühl, als kippe sie über Bord. Doch sie erkannte den Koffer aus Tuch und Leder, dicht neben ihr, und fasste wieder Zuversicht. Sie hatte geträumt, sie reise auf einem Schiff, und es stampfte so heftig, dass sie ständig aus ihrer Koje zu fallen drohte.
    Ein Telefon klingelte. Tastend knipste sie die Nachttischlampe an. Sie griff nach dem Hörer. Bagherians Stimme klang fern. Geknister. Dann wurde alles klar, man hätte glauben können, er spreche aus dem Nebenzimmer zu ihr. Ob sie gut untergebracht sei? Er gab ihr praktische Ratschläge: Sie könne ihre Mahlzeiten im Hotel einnehmen oder im Café an der Ecke; am besten sei es, sie bleibe in diesem Hotel, solange sie wolle, bis sie Arbeit finde, und sogar danach; wenn sie Geld brauche, solle sie in seinem Namen zu einer Bank gehen, deren Adresse er ihr nannte. Sie wusste genau, dass sie es niemals tun würde. Sie hatte den Umschlag mit Bargeld zurückgewiesen, als er sie in Lausanne zum Bahnhof gebracht hatte. Sie hatte nur ihren Lohn als Gouvernante der Kinder angenommen. Gouvernante: ein Wort, das Bagherian benutzt hätte. Er machte sich selber lustig über gewisse altmodische Ausdrücke, die ihm häufig über die Lippen kamen und Margaret Le Coz verblüfften. Einmal hatte sie ihm Komplimente gemacht für seine gewählte Ausdrucksweise. Er hatte ihr erklärt, er sei auf französischen Schulen in Ägypten von Lehrern erzogen worden, die im Hinblick auf Satzbau und Vokabular viel strenger waren, als man es in Paris je hätte sein können. Als sie den Hörer auflegte, fragte sie sich, ob Bagherian wieder anrufen würde. Vielleicht hatte er zum letzten Mal mit ihr gesprochen. Dann wäre sie allein in diesem Hotelzimmer, mitten in einer unbekannten Stadt, ohne recht zu wissen warum.
    Sie löschte die Nachttischlampe. Für den Augenblick war das Halbdunkel ihr lieber. Wieder hatte sich ein Bruch in ihrem Leben ereignet, doch sie spürte kein Bedauern, auch keine Unruhe. Es war nicht das erste Mal … Und immer geschah es auf die gleiche Weise: Sie kam in einem Bahnhof an, ohne dass irgendwer auf sie wartete, und in einer Stadt, deren Straßennamen sie nicht kannte. Sie war nie an den Ausgangspunkt zurückgekehrt. Und außerdem hatte es nie einen Ausgangspunkt gegeben wie bei Leuten, die einem sagen, dass sie aus dieser Provinz oder jenem Dorf stammen und von Zeit zu Zeit wieder hinfahren. Sie war nie wieder an einen Ort gefahren, an dem sie gelebt hatte. Zum Beispiel würde sie nie mehr in die Schweiz zurückkehren, jene Schweiz, die ihr wie ein Zufluchtsort erschien, als sie am Busbahnhof von Annecy in den Bus gestiegen war und gefürchtet hatte, man könnte sie an der Grenze aufhalten.
    Sie empfand immer Freude, wenn es ans Abschiednehmen ging, und bei jedem dieser Brüche war sie überzeugt, das Leben würde die Oberhand gewinnen. Sie wusste nicht, ob sie lange in Paris bleiben würde. Das hing ganz von den Umständen ab. Der Vorteil ist, dass man in einer großen Stadt leicht jemanden abschütteln kann, und in Paris würde es für Boyaval noch viel schwieriger sein, sie aufzuspüren, als in der Schweiz. Sie hatte Bagherian gesagt, sie wolle Arbeit suchen – eine Sekretariatsarbeit, denn sie spreche ja Deutsch –, vorzugsweise in irgendwelchen Büros, wo sie untertauchen könne zwischen den anderen. Er hatte überrascht reagiert und sogar leicht beunruhigt. Und warum nicht wieder Gouvernante? Sie wollte ihm nicht widersprechen. Ja, Gouvernante, falls sie eine Familie fand, bei der sie sich in Sicherheit fühlte.
    An jenem Nachmittag, an dem sie sich in der Agentur Stewart vorstellte, Faubourg Saint-Honoré,

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