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Der Horizont: Roman (German Edition)

Der Horizont: Roman (German Edition)

Titel: Der Horizont: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patrick Modiano
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widerwillig »guten Abend« gesagt hatte, schaute sie geflissentlich an ihr vorbei. Ja, wirklich, sie war weniger nett als die »Norwegerin«. Sie hatten das Büro zu dritt verlassen. Auf dem Trottoir der Rue du Grand-Chêne hatte Bagherian vorgeschlagen, im Hotel nebenan noch ein Glas zu trinken. Sie saß in einem Ledersessel, zwischen Bagherian und der »Sekretärin«, vor ihr ein Glas Wodka. »Auf russische Art«, hatte Bagherian gesagt und mit ihr und der »Sekretärin« angestoßen. Die zwei hatten ihre Gläser ex getrunken – wie man im Café de la Gare von Annecy sagte –, sie nippte an ihrem, weil es das erste Mal war, dass sie Wodka vorgesetzt bekam. Sie hatte den Eindruck, dass die »Sekretärin« freundlicher wurde. Sie lächelte und stellte ihr Fragen. Ob sie sich wohl fühle in Lausanne? Und wo sie vorher gearbeitet habe? Ob ihre Familie in Frankreich lebe? Sie versuchte zu antworten, so gut es ging, die meisten Worte fielen ihr nicht ein. Und dennoch betrachteten Bagherian und die »Sekretärin« sie mit Wohlwollen, als wären sie tatsächlich gerührt von dieser Schwierigkeit, sich auszudrücken. Sie merkte zwar, dass die wenigen Worte, die aus ihrem Mund kamen, immer verworrener wurden, aber zum ersten Mal in ihrem Leben spürte sie keine Befangenheit, keine Furcht. Verschwunden war die Angst, von der sie in Gegenwart anderer immer gequält wurde: »nicht auf der Höhe zu sein«. Nein, die anderen mussten sie nehmen, wie sie war, sie wollte sich nicht mehr anstrengen, um »auf ihrer Höhe zu sein«, sie würde sich damit begnügen, sie selbst zu sein, ganz einfach, und wenn ihnen das nicht gefiel, Pech gehabt. Ein Satz kam ihr wieder in den Sinn: »Ich liebe den, der mich liebt.« Und auf einmal merkte sie überrascht, dass sie ihn laut hersagte vor Bagherian und der »Sekretärin«. Diese warf ihr einen amüsierten Blick zu. Bagherian beugte sich hinüber und sagte mit seiner sanften Stimme:
    »Ja, natürlich, Margaret, Sie haben recht, das ist ganz richtig … Ich liebe den, der mich liebt …« Und er schien bewegt von diesem Satz.
    Sie fragte sich, ob die »Norwegerin« auch noch dazukommen würde, aber die »Norwegerin« und die »Sekretärin« sah man nur selten zusammen. Sie verbrachten abwechselnd die Nacht in Bagherians Wohnung. In einer Nacht jedoch waren alle zwei bei ihm geblieben. Sie hatte sich gesagt, dass sein Gefühlsleben ziemlich kompliziert sein musste. Und jetzt? Das würde sich zeigen. Man musste in den Tag hineinleben, wie der Wirt vom Café de la Gare in Annecy zu sagen pflegte. Die »Sekretärin« wurde immer freundlicher. Sie hatte Margarets Hand ergriffen.
    »Ja, natürlich, das ist sehr hübsch … Ich liebe den, der mich liebt … Das müssen Sie mir aufschreiben, damit ich es nicht vergesse …«
    Bagherian fragte sie:
    »Mögen Sie keinen Wodka?«
    Doch, doch. Sie mochte alles. Sie machte nie Schwierigkeiten. Sie trank ihr Glas in einem Zug.
    Draußen, auf dem Trottoir, fragte sie sich, ob die »Sekretärin« mitkommen würde in die Wohnung.
    Nein. Die »Sekretärin« sagte zu Bagherian:
    »Bis morgen, Michel.«
    Und sie gaben einander die Hand. Dann drehte sie sich zu Margaret und lächelte.
    »Sie schreiben mir diesen Satz über die Liebe auf, hm? Er ist so hübsch …«
    Sie sah ihr nach, und in der Stille hörte man das regelmäßige Klackern ihrer hohen Absätze. Der Wagen glitt mit abgeschaltetem Motor durch die Avenue d’Ouchy. Das Gefälle verursachte ihr einen leichten Schwindel. Sie schwebte. Sie legte den Kopf an Bagherians Schulter, und dieser drehte das Radio an. Ein Sprecher redete mit gedämpfter Stimme deutsch, ein merkwürdiges Deutsch, das nichts zu tun hatte mit dem Deutsch von Berlin, wo sie geboren war, ein südliches Deutsch, dachte sie, mit einem leichten Marseiller Akzent. Und bei dem Gedanken an ein Marseiller Deutsch musste sie lachen.
    »Ah, Sie wirken gelöster als vorhin«, sagte Bagherian.
    Ihr Kopf lag noch immer an seiner Schulter. Und als der Wagen an einer roten Ampel hielt, drehte er sich leicht und strich ihr über Haar und Wange.
    Gleich nachdem er in den Chemin de Beaurivage eingebogen war, erkannte sie vor dem Gebäude die Silhouette von Boyaval, in seinem engen schwarzen Mantel. Sie hatte es ja geahnt. Sie war überrascht, nicht die übliche Angst zu empfinden. Nein, ganz im Gegenteil. Sie erstickte fast vor lauter Wut. Das Glas Wodka von vorhin oder Bagherians Gegenwart? Sie bekam sogar Lust, ihn herauszufordern.

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