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Der Horizont: Roman (German Edition)

Der Horizont: Roman (German Edition)

Titel: Der Horizont: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patrick Modiano
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Das war es also, was ihr das Leben vergiftete und sie dazu brachte, an Hauswänden entlangzuschleichen? So wenig? Ein Versager, der sie hinderte, die Sonne zu genießen … Und sie hatte einfach resigniert, als sei das ihr unausweichliches Schicksal und als könnte sie nichts Besseres erhoffen.
    »Fahr ihn über den Haufen«, sagte sie zu Bagherian.
    Sie zeigte auf den Kerl, dort hinten, vor dem Haus.
    »Warum willst du, dass ich ihn über den Haufen fahre?« fragte Bagherian mit sanfter Stimme, beinahe flüsternd.
    Sie duzten sich zum ersten Mal. Sie spürte von neuem Angst aufsteigen, wie bei einer Migräne, die nach mehreren Stunden wiederkommt, nachdem man ein Schmerzmittel genommen hat. Er parkte den Wagen, und Boyaval stand da, reglos. Unmöglich, ihm auszuweichen.
    »Dieser Typ macht mir angst. Können wir noch eine Weile im Auto bleiben?«
    Bagherian drehte sich zu ihr, verwundert:
    »Aber warum macht er dir angst?«
    Seine Stimme war immer noch ruhig. Er lächelte ironisch, auch während er Boyaval betrachtete.
    »Soll ich ihn fragen, was er hier macht?«
    Boyaval kam ein paar Schritte näher, um die Insassen des Wagens besser zu sehen. Margarets Blick begegnete dem seinen. Er lächelte sie an. Dann stellte er sich wieder vor das Gebäude.
    »Heute nachmittag bin ich bis zum Park gegangen, und dieser Typ ist mir gefolgt.«
    Bagherian öffnete die Autotür und wollte aussteigen, aber sie hielt ihn zurück, legte die Hand auf seinen Arm. Der Revolver in seinem grauen Wildlederetui war nur ein Detail, eine »Angeberei«, wie Boyavals ehemalige Freunde sagten. Manchmal hatte er auch ein Messer mit vielen Klingen dabei, und einer seiner Lieblingsspäße, vor dem Poker im Café de la Gare, bestand darin, die linke Hand flach auf den Tisch zu legen, mit gespreizten Fingern. Und mit dem Messer immer schneller zwischen seine Finger zu stechen. Wenn er sich nicht verletzte, musste ihm jeder Kartenspieler fünfzig Franc geben. Wenn er sich schnitt, umwickelte er die Hand bloß mit einem weißen Taschentuch, und die Runde begann wie üblich. Eines Abends hatte er sie auf der Promenade du Pâquier angesprochen, als sie gerade ins Cinéma du Casino ging, und da hatte sie ihn gröber als sonst aufgefordet, sie in Ruhe zu lassen. Er hatte sein Messer aus der Tasche gezogen, die Klinge war klickend herausgesprungen, und er hatte ihr die Spitze mit leichtem Druck zwischen die Brüste gesetzt. An diesem Abend hatte sie wirklich Angst gehabt und krampfhaft versucht, sich keinen Millimeter zu rühren. Und er blickte ihr gerade in die Augen, mit seinem sonderbaren Lächeln.
    »Es ist idiotisch, Angst zu haben«, sagte Bagherian. »Ich habe nie vor irgendwas Angst.«
    Er zog sie aus dem Wagen. Er nahm ihren Arm. Der andere hatte sich ihnen gegenüber vor das Haustor gestellt. Bagherian ging langsam und drückte ihr den Arm. Sie fühlte sich in seiner Begleitung etwas sicherer. Im Kopf wiederholte sie einen Satz, um sich Mut zu machen: »Der ist kein Chorknabe.« Nein, trotz seiner vornehmen Manieren und seines guten Französisch widmete sich dieser Mann, der ihr den Arm drückte, offenbar gefährlichen Aktivitäten. Ihr waren die schrägen Figuren aufgefallen, die in seinem Büro verkehrten, und die merkwürdigen Gestalten, die ihn umgeben hatten, als sie mit den Kindern nach Genf gefahren war, um ihn an einem Spätnachmittag in der Halle des Hôtel du Rhône zu treffen.
    »Suchen Sie etwas, Monsieur?« fragte Bagherian.
    Boyaval hatte sich an das Haustor gelehnt und die Arme verschränkt. Er musterte sie beide mit starrem Lächeln.
    »Sie stehen im Weg«, sagte Bagherian mit seiner sanften Stimme.
    Margaret blieb hinter ihm. Der andere rührte sich nicht, hielt die Arme verschränkt und schwieg.
    »Sie gestatten?« sagte Bagherian etwas leiser, als wollte er niemanden wecken.
    Er versuchte Boyaval mit der Schulter nach rechts wegzudrängen, aber der rührte sich nicht.
    »Na gut, Sie zwingen mich, Ihnen weh zu tun.«
    Und er schubste ihn so kräftig, dass Boyaval nach vorne geschleudert wurde und der Länge nach aufs Trottoir stürzte. Margaret sah, dass er aus dem Mundwinkel blutete, und sie fragte sich, ob er das Bewusstsein verloren hatte. Bagherian war hingegangen und beugte sich über ihn:
    »Um diese Zeit finden Sie noch eine offene Apotheke in der Avenue de Rumine, Monsieur.«
    Dann öffnete er das Haustor und ließ Margaret den Vortritt. Er hatte wieder ihren Arm genommen. Im Fahrstuhl stellte er keine Fragen, als sei

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