Der Horizont: Roman (German Edition)
er sie anblickte, ein Groll, bei dem sie jedesmal Lust bekam, ihn nach dem Grund zu fragen.
»Schämst du dich nicht, so mit mir zu reden?«
Das hatte er in strengem Ton gesagt, aber mit einer seltsamen Fistelstimme.
Die Ohrfeige klatschte auf ihre linke Wange, ohne dass sie darauf gefasst war. Es war die erste Ohrfeige seit dem Internat. Einen Augenblick war sie ganz benommen. Unwillkürlich fuhr sie sich mit einem Finger an den Mundwinkel, um zu sehen, ob sie blutete. Jetzt bot sie ihm die Stirn, und sie hatte das Gefühl, dass er nun in der Defensive war. Sie hörte sich mit kalter Stimme sagen:
»Wollen Sie wirklich nicht? Komisch … Haben Sie Angst, mit raufzukommen? Sagen Sie doch, warum haben Sie Angst?«
Eine Eule, vom Licht geblendet. Er wich vor ihr zurück. Sie schaute ihm nach, wie er mit ruckartigen Bewegungen auf der Straße davonging. In der Ferne verschmolz er mit der dunklen Mauer des Haras. Er würde sich in Luft auflösen. Sie sagte sich, dass sie nie wieder von ihm hören würde.
Aber zwei Tage später tauchte er wieder auf. Sie saß hinterm Schreibtisch der Buchhandlung, in der Rue de la Poste. Sechs Uhr abends, und es war bereits finster. Er stand vor dem Schaufenster, und man hätte glauben können, er betrachte die ausgelegten Bücher. Von Zeit zu Zeit warf er ihr einen Blick zu und lächelte verhalten. Er betrat die Buchhandlung:
»Tut mir leid wegen neulich abend.«
Sie sagte mit gelassener Stimme:
»Das ist völlig belanglos.«
Ihr Gleichmut schien ihn zu beruhigen.
»Sie sind mir also nicht böse?«
»Nein.«
»Dann sehen wir uns vielleicht im Café de la Gare?«
»Vielleicht.«
Sie vertiefte sich wieder in eine Buchführungsarbeit, und er versuchte nicht, sie weiter abzulenken. Nach einer Weile hörte sie, dass die Tür der Buchhandlung sich hinter ihm schloss. Trotz ihrer schlaflosen Nächte ging sie nicht mehr ins Café de la Gare, aus Furcht, ihm zu begegnen. Jeden Abend gegen sechs stand er vor dem Schaufenster. Er belauerte sie. Und sie gab sich Mühe, ungerührt zu bleiben, sie setzte ihre Sonnenbrille auf, um sich abzuschirmen, und Boyavals Gesicht jenseits der Scheibe wurde verschwommen. Gesicht und Körper waren ziemlich hager, doch auf Margaret wirkten sie plump, als sei das Gerippe schwerer und die Haut weicher und weißer, als der erste Blick vermuten ließ. Übrigens hatten seine Mitspieler beim Poker im Café de la Gare wohl auch diesen Eindruck, denn sie nannten ihn »das Mammut«. Rosy, das Mädchen aus der Parfümerie, hatte ihr gesagt, er habe noch einen anderen Spitznamen, doch Margaret hatte nicht verstanden, was er bedeuten sollte: »Ruckzuck«.
In Paris, im Zimmer des Hôtel Sévigné, schien ihr das alles so fern … Und doch, wenn sie mitten in der Nacht aufschreckte, musste sie immerzu daran denken. Eines Tages war sie mit Rosy unter den Arkaden der großen Häuserblöcke, unweit der Taverne, spazierengegangen. Sie hatte sich ihr ein bisschen anvertraut und gefragt, wie sie den Typen loswerden könnte. Die andere hatte gesagt: »Er stellt dir nach, weil du keine Abwehrkräfte hast … Der ist so wie Mikroben …« Ja, sie befand sich oft in einem Zustand großer Verletzbarkeit. Und das war ihr vollkommen klar geworden, als sie die Polizei aufgesucht und um Schutz gebeten hatte. Sie war wie Luft behandelt worden. Die Polizisten hätten sich anders verhalten, wäre sie die Tochter eines Industriellen oder Notars aus der Gegend gewesen. Aber sie hatte keine Familie, man hielt sie für ein unsolides mädchen , der Titel eines Romans, den sie gelesen hatte. Der Polizist hatte bei der Kontrolle ihres abgelaufenen Passes gefragt, warum sie in Berlin geboren war und wo ihre Eltern seien. Sie hatte gelogen: Ihr Vater sei Bergbauingenieur, wohne in Paris und halte sich mit seiner Frau oft im Ausland auf; und sie, eine gute Schülerin, sei bei den Schwestern von Saint-Joseph in Thônes gewesen und im Internat von La Roche-sur-Foron. Aber das schien ihr Gegenüber nicht besonders zu interessieren. Umso besser für sie. Es wäre unangenehm gewesen, ins Detail zu gehen. Er hatte ihr mit ironischem Lächeln davon abgeraten, Anzeige gegen jemanden zu erstatten, der ihr gewiss nichts Böses wollte … Bloß ein Anbeter. Wissen Sie, hatte er zum Schluss gesagt, solange es keine Toten gibt …
Na ja, es wäre ihr peinlich gewesen, wenn der Bulle ins Detail gegangen wäre … Gestern hatte sie einen Brief bekommen, den ersten seit langer Zeit, er lag
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