Der Horizont: Roman (German Edition)
gar nichts passiert und als habe die Sache sowieso nicht die geringste Bedeutung.
Später hatte sie sich neben ihn auf das Kanapee gesetzt. Sie hätte ihm gern einiges erklärt, ihm gesagt, dass dieser Typ sie seit einiger Zeit unablässig verfolgte. Doch er war entspannt, heiter, man hätte glauben können, er komme von einem angenehmen Abend mit Freunden und der Zwischenfall eben habe nicht stattgefunden. In Annecy war sie anfangs zweimal aufs Polizeirevier gegangen, weil sie um Schutz bitten wollte und vielleicht Anzeige erstatten. Man hatte sie nicht ernst genommen. Beim ersten Mal hatte der Polizist gesagt: »Sie sind so hübsch, Mademoiselle … Da ist es begreiflich, dass Sie Verehrer haben …«, und beim zweiten Mal war man viel weniger freundlich zu ihr gewesen und hatte sie argwöhnisch betrachtet. Es interessierte niemanden.
»Es tut mir leid«, stotterte sie schließlich.
»Was tut dir leid?«
Er goss Alkohol in zwei Gläser. Er rückte näher und murmelte ihr ins Ohr: »Auf russische Art.« Diesmal war sie entschlossen, das Glas in einem Zug zu leeren. Wahrscheinlich hatte er vor dem Haus keinerlei Neugier wegen Boyavals Anwesenheit gezeigt, weil es in seinem Leben beunruhigendere Dinge gab und diese Episode ihm zu banal erschien. Darum wunderte er sich über nichts und bewies Kaltblütigkeit, ja sogar Leichtsinn. Er hatte völlig recht, und dafür liebte sie ihn. Er hatte die Lampe im Salon gelöscht, und sie spürte, wie seine Hand ihre Bluse aufknöpfte, genau da, wo der andere, vor so langer Zeit schon, die Klinge seines Messers angesetzt hatte. Doch jetzt war es etwas anderes. Sie konnte sich endlich treiben lassen. Ja, mit ihm schien alles plötzlich ganz einfach.
Gegen vier in der Früh schlich sie für einen Augenblick aus Bagherians Schlafzimmer, um ihre Kleider einzusammeln, die im Salon auf Kanapee und Teppichboden herumlagen. Das war ein alter Reflex, der aus ihren Internatsjahren stammte, und wohl auch die Gewohnheit, nie in einem Zimmer und an einem Ort zu sein, die wirklich ihr gehört hätten. Immer auf der Durchreise und auf dem Quivive. Stets mussten ihre Kleider ordentlich neben ihr liegen, damit sie bei der kleinsten Bedrohung flüchten konnte.
Das Fenster im Salon war einen Spalt geöffnet, und sie hörte den Regen rauschen. Sie presste ihre Stirn an die Scheibe. Unten stand immer noch Boyaval. Sie sah ihn ganz deutlich im Licht des Hauseingangs, das die ganze Nacht brannte. Er glich einer Schildwache, die sinnlos auf ihrem Posten verharrte. Er rauchte. Blutspuren an seinem Kinn. Er suchte nicht einmal Schutz vor dem Regen unter dem Vordach des Hauseingangs. Er stand sehr gerade da, fast in Habtachtstellung. Dann und wann zog er an seiner Zigarette. Der nasse Mantel klebte am Körper. Sie fragte sich, ob diese schwarze Gestalt ihr das ganze Leben lang den Horizont verdecken würde. Sie musste sich weiter in Geduld fassen, aber das hatte sie seit ihrer Kindheit immer getan. Warum? Und wie lange noch?
Im Zimmer des Hôtel Sévigné verbrachte sie schlaflose Nächte, so wie früher oft in Annecy. Sie hatte immer Angst davor gehabt, Schlaftabletten zu nehmen, Angst, nie wieder aufzuwachen.
Einmal, in Annecy, gegen drei Uhr morgens, als sie nicht einschlafen konnte, hielt sie es nicht länger aus in ihrem Zimmer. Also war sie ins Freie gegangen und die menschenleere Rue Vaugelas entlanggelaufen. Licht brannte nur noch im Café de la Gare, das die ganze Nacht geöffnet hatte.
Und jedesmal, wenn sie keinen Schlaf fand, hatte sie es wieder aufgesucht. Die Gäste waren immer dieselben. Etwas hatte sie irritiert: Diese Leute sah man tagsüber nie auf den Straßen. Doch, es gab Ausnahmen. Rosy arbeitete in einer Parfümerie in der Rue Royale. Margaret Le Coz beobachtete sie hinter der Schaufensterscheibe, und sie hatte den Eindruck, dieses heitere und gepflegte blonde Mädchen sei nicht dieselbe Person wie die in der Nacht. Und Doktor Hervieu war sie mehrmals am späten Nachmittag begegnet. War das wirklich derselbe Mann? Am hellichten Tag schienen weder Rosy noch Doktor Hervieu sie zu erkennen, während sie in der Nacht, im Café, mit ihr sprachen. Aber die anderen hatte sie tagsüber nie irgendwo getroffen, als würden sie sich bei Sonnenaufgang in Luft auflösen: Olaf Barrou, Guy Grene, das Mädchen, das Irma la Douce genannt wurde … Und hier, im Café de la Gare, war ihr Boyaval schon in der ersten Nacht aufgefallen. Am Anfang hegte sie auch kein Misstrauen. Er begegnete
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