Der Horizont: Roman (German Edition)
ihr mit einer gewissen Freundlichkeit. Er kam und gab ihr die Hand und sagte ein paar nette Worte, bevor er seine Runde Poker begann. Dann hatte sie mit der Zeit gemerkt, wie nervös er war. Eines Nachts hatte er ihr vorgeschlagen, sie für einen Tag mitzunehmen nach La Clusaz. Sie würden zusammen Ski fahren. Sie hatte abgelehnt. Sie hatte noch nie auf Skiern gestanden. Aber der andere war aggressiv geworden:
»Warum? Haben Sie Angst vor mir?«
Sie war sehr überrascht gewesen und hatte nicht gewusst, was sie antworten sollte. Zum Glück hatten ihn die anderen zu ihrem Pokerspiel geholt. Sie hatte erfahren, dass dieser Typ, ein paar Jahre zuvor, beinahe Mitglied der französischen Skinationalmannschaft geworden wäre, dann aber einen ziemlich schweren Unfall gehabt hatte. Er war Skilehrer in La Clusaz und Mégève gewesen. Und jetzt machte er irgendetwas im Fremdenverkehrsbüro. Vielleicht hatte er sich also über ihre geringe Begeisterung fürs Skifahren geärgert und über eine gewisse Hochnäsigkeit, mit der sie seinen Vorschlag abgelehnt hatte. Nach ein paar Nächten jedoch wurde seine Haltung ihr gegenüber beunruhigend.
Sie war ihm mehrmals am frühen Nachmittag begegnet, wenn sie zu ihrer Halbtagsarbeit in der Librairie de la Poste ging. Er versperrte ihr den Weg, so als spürte er, dass sie nicht mit ihm reden wollte. Sie versuchte, Ruhe zu bewahren und höflich zu bleiben. Aber für jede Verabredung, die er ihr vorschlug, fand sie eine Ausrede, und wieder wurde er aggressiv. Eines Abends hatte sie eingewilligt, mit ihm ins Kino zu gehen. Sie hatte sich gesagt, danach würde er vielleicht weniger aufdringlich sein. An jenem Abend waren sie fast die einzigen Zuschauer im Saal des Casino. Sie erinnerte sich so gut, dass nun in Paris, in diesem Zimmer des Hôtel Sévigné, wenn sie daran zurückdachte, der Film und seine schwarz-grauen Farben für sie endgültig verbunden waren mit Annecy, mit dem Café de la Gare, mit Boyaval. Sie erwartete, dass er im Dunkeln den Arm um ihre Schultern legen oder nach ihrer Hand greifen würde, und trotz ihres Abscheus würde sie es hinnehmen. Mitunter zweifelte sie so sehr an sich selbst, dass sie zu Zugeständnissen bereit war, damit die anderen sie akzeptierten oder sich wenigstens nicht mehr feindselig zeigten. Ja, oft hatte sie das Gefühl, in der unbequemen Lage von Leuten zu sein, die ständig irgendwelchen Erpressern nachgeben müssen in der Hoffnung auf eine kurze Atempause.
Doch während der ganzen Vorstellung unternahm er nichts von dem, was sie befürchtet hatte. Er hielt sich kerzengerade auf seinem Sitz. Sie bemerkte, dass er sich vorbeugte, als wäre er fasziniert von der Leinwand, und zwar genau in dem Augenblick, wo das Mädchen ins Zimmer des jungen Dirigenten tritt und ihn mit einem Revolver erschießt. Sie spürte ein starkes Unbehagen. Sie hatte sich plötzlich vorgestellt, wie Boyaval mit einem Revolver in der Hand in ihr Zimmer trat, Rue du Président-Favre.
Nach dem Kino hatte er vorgeschlagen, sie nach Hause zu begleiten. Er hatte eine sanfte Stimme, eine Schüchternheit, die sie nicht an ihm kannte. Sie gingen nebeneinander, und er machte ihr nicht die mindesten Avancen. Wieder wollte er sie für einen Nachmittag mitnehmen nach La Clusaz und ihr Skilaufen beibringen. Sie wagte nicht abzulehnen, aus Angst, er würde gleich wieder schlechte Laune bekommen. Sie waren an der Promenade du Pâquier schon vorüber und erreichten die Villa Schmidt.
»Haben Sie einen Freund?«
Sie war auf eine solche Frage nicht gefasst. Sie antwortete: Nein. Das war klüger so. Sie musste an die Filmszene denken, in der das Mädchen mit dem Revolver schießt, aus Eifersucht.
Von diesem Augenblick an und bis sie vor dem Haus standen, wurde er immer zappeliger, schwieg aber. Sie fragte sich, ob er die Absicht hatte, mit hinaufzukommen in ihr Zimmer. Sie hatte beschlossen, ihn nicht zu verstimmen. Um Mut zu fassen, wiederholte sie im Kopf einen Rat, den ihr ein Mädchen im Internat gegeben und den sie oft befolgt hatte: Nur kein Aufheben machen. Vor der Haustür blieb sie stehen.
»Kommen Sie mit rauf?«
Sie hatte beschlossen, das Übel an der Wurzel zu packen. Sie wollte wissen, wie dieser Typ reagieren würde, der ihr nachstellte, ohne dass sie sich erklären konnte, was für ein Mensch er war. So wüsste sie wenigstens Bescheid.
Er wich zurück, und der Ausdruck in seinem Blick verblüffte sie – ein Ausdruck von Groll, den sie später oft wahrnehmen würde, wenn
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