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Der Hügel des Windes

Der Hügel des Windes

Titel: Der Hügel des Windes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carmine Abate
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davon in seinen Händen drehte. »Wir gehen jetzt«, sagte er wohlerzogen. »Auf Wiedersehen.«
    Paolo Orsi schien aus einem wunderschönen Traum zu erwachen. Er lächelte ihm zu und fuhr ihm mit der freien Hand durchs Haar. »Das ist das zweite Mal, dass ich dich da oben auf dem Olivenbaum sehe, wie du alles aufmerksam beobachtest. Dir entgeht wohl nichts, hm?, kleiner Wächter des Hügels.« Und er verabschiedete ihn mit einem »Auf Wiedersehen« und einem kräftigen Händedruck.

11
    Für die Nacht begnügten Paolo Orsi und seine Mitarbeiter sich mit ein paar Decken in der Steinhütte auf dem Hügel. Die Arbeiter, die in Cirò und Marina wohnten, zogen es vor, zu Hause zu schlafen und bei Morgengrauen zurückzukehren, manche zu Fuß, manche auf dem Rücken eines Maultiers. Daher waren keine Zelte errichtet worden wie sonst bei abgelegenen Ausgrabungsstätten. Im Grunde war die Casella bequemer und sicherer als ein Zelt. Arturos Großvater hatte sie Ende des neunzehnten Jahrhunderts mit Steinen der Fiumara errichtet, während die Dachpfannen und Bodenziegel aus der Brennerei in Pigàdo stammten. Um sie hygienischer zu halten, hatte Paolo Orsi das Kleinholz und Stroh hinausschaffen lassen und damit Dutzende Mäuse und ein Heer verschiedenster Insekten in die Flucht geschlagen. Dem Professor, dem es nicht fremd war, nachts in leeren Gräbern vor Wind und Kälte Unterschlupf zu suchen, musste die geräumige Hütte mit ihrem gebrannten Boden geradezu luxuriös vorkommen. Und anständig, wie er war, hatte er versprochen, auf das Geld, das der Signora für die Ausgrabungen zustand, noch ein kleines Sümmchen draufzuschlagen.
    »Ein wahrer Ehrenmann!«, hatte Sofia geurteilt, als sie auf den Rossarco stieg, um die Schwiegertochter nicht mit all den Männern alleine zu lassen. Und kaum hatte sie entdeckt, dass Paolo Orsi außer Professor, Direktor, Archologe und wer weiß was noch alles auch Senator des Königreiches war, hattesie die Gelegenheit genutzt, um ihm von ihrem Sohn Arcuri Arturo zu erzählen, der zu Unrecht in die Verbannung geschickt worden war, von ihren zwei fruchtlosen Gnadengesuchen, und hatte gefragt, ob er, der Senator, nicht helfen könne, ihren Arturino nach Hause zu holen.
    Aufrichtig hatte der Professor erwidert: »Tut mir leid, Signora, aber auf diese Dinge habe ich keinen Einfluss. Ich will Euch da nichts vormachen. Im Übrigen bin ich wegen meiner kulturellen Verdienste Senator geworden, politisch zähle ich nichts.« Die Verlegenheit stand ihm ins Gesicht geschrieben, und er hatte seine Arbeit möglichst entfernt von Signora Sofia wieder aufgenommen.
    Das erzählte Nonna Sofia beim Abendessen und wirkte alles andere als enttäuscht: »Nie habe ich in unserem Dorf Ehrenmänner wie ihn gesehen. Einer, der nicht groß herumredet, sondern seine Arbeit macht.«
    Als Michelangelo vier Tage später auf den Hügel zurückkehrte, hatte es die ganze Nacht und den halben Vormittag geschüttet. Dann blies der Wind plötzlich die schwarzen Wolken hinweg, und eine laue Frühlingssonne brach durch, die in kürzester Zeit den Himmel, das Meer und die Baumwipfel mit ihrem Licht überflutete. Hier und da sah man große Felsquader, die der Regen von Erdreich gereinigt hatte.
    Paolo Orsi gab jedem Arbeiter präzise Anweisungen, wo er graben solle, nachdem er festgestellt hatte, dass das Gelände an einigen Stellen weich und aufgeschwemmt war.
    Michelangelo wusste nicht, wie er es sagen sollte, dann rang er sich endlich durch: »Professò, darf ich auch mithelfen? Ich kann gut mit Hacke und Schaufel umgehen, das hat mein Vater mir beigebracht, als ich klein war.«
    Der Professor fuhr ihm wieder durch den Schopf. »Das hier ist kein Spiel, lieber Michelangelo. Und wenn ich mich nicht irre, hast du schon eine anspruchsvolle Aufgabe. Du bist der Wächter des Hügels, und der Wächter ist wichtiger als der Ausgräber, wichtiger als ein Archäologe wie ich: Er bewahrt die Erinnerung eines Ortes, schützt das, was unter und über der Erde liegt, vor den gierigen Klauen der anderen. Er verteidigt seine Würde.«
    Der Junge war enttäuscht. Die freundlichen Worte des Professors vermochten ihn nicht zu trösten, vielleicht hatte er sie nicht recht verstanden. Michelangelo wollte auf den großen Olivenbaum steigen, um seine Enttäuschung vor den anderen zu verbergen, doch die Baumkrone triefte vor Nässe. Also half er der Mutter im Gemüsegarten. Zusammen harkten sie ein rechteckiges Stück nasser, gut durchmisteter Erde, dann

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