Der Hügel des Windes
Stadt der Magna Graecia, erhob sich auf einem Hügel zwischen dem heutigen Cirò und dem Ionischen Meer. Dem Geschichtsschreiber Strabon zufolge war ihr Gründer der berühmte Bogenschütze Philoktetes, der aus Thessalien stammte und im Trojanischen Krieg gekämpft hatte. Zurück in seiner Heimat, war er infolge eines blutigen Aufstands mit einer Gruppe griechischer Epiroten geflohen und bei der Punta Alice an Land gegangen. Von dort hatte er die Umgebung erkundet. Die Entscheidung, wo er seine neue Stadt bauen wollte, fiel ihm nicht schwer, denn Orte haben eine Anziehungskraft wie Menschen, sie verführen dich mit ihrem leuchtenden Blick, der Sprache des Windes, ihrem ungeahnten Duft. Und tatsächlich, als Philoktetes auf den Hügel stieg und sah, wie die Landspitze ihren Keil in das gewaltige Meer trieb, hatte er nicht den geringsten Zweifel: Dort unten, auf dieser von der Sonne geküssten Ebene, würde er einen Tempel zu Ehren des Apollon Alaios errichten, während die Stadt weiter oben entstehen sollte, auf dem Berghang zum Ionischen Meer.
Dies erzählte Paolo Orsi, der kreuz und quer das Gelände durchkämmte, zusammen mit zwei leicht verloren wirkenden Männern, die er als seine Mitarbeiter vorgestellt hatte: dem Zeichner Rosario Carta und dem Restaurator Giuseppe D’Amico.
Der Junge folgte im Galopp Professor Orsis langen Schrittenund vor allem seinen komplizierten Worten, die er sich einzuprägen versuchte wie ein Gedicht, dessen Sinn man nicht versteht, das aber durch seinen zauberhaften Klang und das dahinter verborgene Rätsel betört. Er redete und schritt unermüdlich aus, der Professor, sog die Luft ein und betastete den Erdboden, ging weiter und wandte sich plötzlich dem großen Olivenbaum zu, bei dem er begonnen hatte. Hinter ihm Michelangelo mit der Mutter und den zwei Mitarbeitern, die hin und wieder anhielten, um etwas in ihre Hefte zu schreiben oder zu zeichnen.
Michelangelo hatte das Gefühl, dass noch andere Augen Paolo Orsis Bewegungen und seinen kleinen Begleitzug beobachteten. Schnell drehte er sich zum Wald von Tripepi um. Dort war niemand, nur die Wipfel der Steineichen wogten und brausten im Wind.
Der Professor presste sich eine Hand auf den Hut, aus Angst, dass er wegflöge. Und dabei lief und redete er immer weiter.
»Dieser Wind! Weht der immer so höllisch?«, fragte er.
»Wenn er böse ist, sogar noch schlimmer«, erwiderte der Junge aufgeweckt.
»Dort unten liegt der Tempel des Apollon Alaios, den wir im Frühjahr 1924 ans Tageslicht gebracht haben. Ich hatte ihn zehn Jahre zuvor gesucht, im Jahr 1915, indem ich all diese Orte ablief. Dabei stieg ich auch auf Euren Hügel und wurde von einem Mann aufgehalten, der mich mit dem Gewehr bedrohte ...«
»Das war mein Schwiegervater, ein guter Christenmensch, er wollte Euch wirklich nicht erschießen«, fiel ihm die Frau ins Wort.
»Stimmt, als er erfuhr, was ich suchte, wurde er sehrhöflich, beantwortete meine Fragen und bot mir einen vorzüglichen Wein an. Mein Plan lautete, hier zu beginnen und dann mit den Ausgrabungen in Richtung Punta Alice weiterzumachen, denn ich glaubte, dass die Siedlung sich fächerförmig über die Landzunge ausgebreitet haben musste. Dann aber wurde ich am selben Tag verhaftet. Die Wachen, die mich über die Hügel und die Ebene zwischen Cirò und Cariati streifen sahen, hielten mich für einen österreichischen Spion.« Die zwei Männer lachten. »Ich wurde sofort wieder freigelassen, aber in der Zwischenzeit war der Krieg ausgebrochen, und das Ausgrabungsprojekt wurde ausgesetzt«, fuhr der Archäologe fort. »Jetzt hoffe ich, die Lage des Städtchens Krimisa zu finden, von dem wir bis heute weniger eine Geschichte als eine hübsche Legende kennen und sonst nichts.«
An diesem Punkt mischte sich zu aller Überraschung wieder die Frau ein: » Professò , verzeiht mir, wenn ich etwas Dummes sage, aber von all den Wörtern, die Ihr benutzt, Magmakrake, Strabag und andere komische Namen, kenne ich nur einen, der so ähnlich klingt: Krisma. Das ist die längliche Erhebung da vor unserem Dorf, die von den Felsspalten durchschnitten ist. Seht Ihr den Ilexwald dort oben? Das ist der Hügel Krisma, der hinter der Fiumara abfällt. Könnte es nicht sein, das Krimisa zu Krisma wurde, was letztlich ja das Gleiche ist, dasselbe Antikwort?«
»Daran hab ich auch schon gedacht, wirklich«, sagte Michelangelo, und das stimmte.
Zuerst brach der Professor in Lachen aus, ein leises Lachen von wenigen Sekunden,
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